Das deulsche Reich und seine einzelnen Glieder. 87 dem Ausdrucke Bonifacius' des Achten alle Rechte im Schrein seiner Brust. Da er nun unfehlbar geworden ist, so kann er im Momente, mit dem einen Wörtchen „orbi“ (d. h. daß er sich an die ganze Kirche wende), jede Satzung, jede Lehre, jede Forderung zum untrüglichen und unwidersprechlichen Glaubens- satze machen. Ihm gegenüber besteht kein Recht, keine persönliche oder cor- porative Freiheit oder, wie die Kanonisten sagen: das Tribunal Gottes und des Papstes ist ein und dasselbe. Dieses System trägt seinen romanischen Ursprung an der Stirne und wird nie in germanischen Ländern durchzudringen vermögen. Als Christ, als Theologe, als Geschichtskundiger, als Bürger kann ich diese Lehre nicht annehmen. Nicht als Christ: denn sie ist unverträglich mit dem Geiste des Evangeliums und mit den klaren Aussprüchen Christi und der Apostel; sie will gerade das Imperium dieser Welt aufrichten, welches Christus ablehnte, will die Herrschaft über die Ge- meinden, welche Petrus allen und sich selbst verbot. Nicht als Theologe: denn die gesammte echte Tradition der Kirche steht ihr unversöhnlich entgegen. Nicht als Geschichtkenner kann ich sie annehmen, denn als solcher weiß ich, daß das beharrliche Streben, diese Theorie der Weltherrschaft zu verwirklichen, Europa Ströme von Blut gekostet, ganze Länder verwirrt und herunterge- bracht, den schönen organischen Verfassungsbau der älteren Kirche zerrüttet und die ärgsten Mißbräuche in der Kirche erzeugt, genährt und festgehalten hat. Als Bürger endlich muß ich sie von mir weisen, weil sie mit ihren Ansprüchen auf Unterwerfung der Staaten und Monarchen und der ganzen politischen Ordnung unter die päpstliche Gewalt und durch die eximirte Stel- lung, welche sie für den Clerus fordert, den Grund legt zu endloser verderb- licher Zwietracht zwischen Staat und Kirche, zwischen Geistlichen und Laien. Denn das kann ich mir nicht verbergen, daß diese Lehre, an deren Folgen das alte deutsche Reich zu Grunde gegangen ist, falls sie bei dem katholischen Theil der deutschen Nation herrschen würde, sofort auch den Keim eines un- heilbaren Siechthums in das eben erbaute neue Reich verpflanzen würde.“') — Genehmigen 2c." 29. März. (Deutsches Reich.) Reichstag: beschließt mit 243 gegen 30. 63 (clericale) Stimmen, eine Antwortsadresse auf die Thronrede zu crlassen. Der Entwurf dazu ist von Vertrauensmännern aller Parteien des Reichstags mit einziger Ausnahme der clericalen Fraktion, die einen Gegenentwurf einbringt, vereinbart worden. Auch damit ist die clericale Fraktion nicht einverstanden, die Revision der Reichsverfassung als eine rein formale zu behandeln und materielle Aenderungen sich für später vorzubehalten, sondern beantragt die Einfügung von Grund- rechten, so weit solche im Interesse der Partei liegen. „ (Deutsches Reich.) Reichstag: Adreßdebatte. Adreßentwurf v. Bennigsen's unterstützt von den Führern aller Fractionen, wie er von denselben, mit Ausnahme der Clericalen, vereinbart worden ist: „Durch Gottes gnädige Fügung ist es Ew. Majestät und der einmüthigen Nation gelungen, die Sehnsucht der Vorfahren und die Hoffnung der Mit- *) Soeben lese ich in dem officiellen Organ der römischen Curie und der Jesuiten, in der „Civiliàä“ vom 18. März 1871, p. 664: „Der Papst ist oberster Richter der bürgerlichen Gesetze. In ihm laufen die beiden Ge- walten, die geistliche und die weltliche, wie in ihrer Spitze zusammen, denn er ist der Stellvertreter Christi, welcher nicht nur ewiger Priester, sondern auch König der Könige und Herr der Herrschenden ist" — und gleich nachher: „Der Papst ist kraft seiner hohen Würde auf dem Gipfel beider Gewalten."“