V. Großbritannien. 1. Januar. Lloyd George über die Rüstungsfrage. Aus einem Gespräch, das der Schatzkanzler Lloyd George mit einem Mitarbeiter des „Daily Chronicle“ über die Frage der Rüstungen führte, gibt die „Frankfurter Ztg.“ folgendes wieder: Der Schaplanfter beklagte die Höhe der Rüstungsausgaben und fügte hinzu, daß diese vollständig nutzlos seien, denn da alle gleichmäßig rüsteten, so habe niemand an Stärke gewonnen. Auf die Frage, ob er den gegenwärtigen Moment als günstig für eine Revision dieser Politik betrachte, erwiderte er mit Nachdruck, es sei seit zwanzig Jahren der günstigste Augenblick. Der Schatzkanzler sagte wörtlich: Es gibt dafür drei Gründe. Der erste ist der, daß unsere Be- ziehungen zu Deutschland jetzt unendlich freundlicher (infinitely more friendl) sind als seit Jahren. Namentlich dank der weisen und geduldigen Diplo- matie von Sir Edward Grey ist die Spannung vollständig gelöst. Beide Länder scheinen eingesehen zu haben, was ihnen schon längst hätte ein- leuchten müssen: daß sie durch einen Streit nichts gewinnen und alles zu verlieren haben, daß sie dagegen durch Rückkehr zu der alten Politik der Freundschaft, die bis zu den letzten Jahren jahrhundertelang zwischen Deutschland und England herrschte, alles zu gewinnen und nichts zu ver- lieren haben. Der Fall von Agadir habe beiden großen Ländern die Ge- fahr der bisherigen Lage klargemacht. Als zweiten Grund zu einer Ver- minderung der Rüstungen bezeichnete Lloyd George die Tatsache, daß die festländischen Nationen ihre Energie jetzt mehr den Landstreitkräften zu- wendeten. Jahrelang habe Deutschland seine Gedanken auf die Seemacht gerichtet, aber die Erfahrung der letzten beiden Jahre habe es daran er- innert, daß kein europäisches Land seine Kraft dem einen Zweige seiner Wehrmacht übermäßig zuwenden könne, ohne den andern zu schwächen. Die deutsche Armee ist lebenswichtig nicht bloß für die Existenz des Deutschen Reiches, sondern für das Leben und die Unabhängigkeit der Nation selbst, da Deutschland umringt ist von Völkern, von denen jedes eine beinahe ebenso mächtige Armee besitzt. Das Land ist so oft von ausländischen Feinden überrannt und verwüstet worden, daß es nicht wagen darf, weiter irgendwelche Gefahren in dieser Richtung zu laufen. Wir vergessen, daß, während wir auf einer Ueberlegenheit von 60 Prozent Seestärke über Deutschland bestehen, dieses keineswegs eine gleiche Ueberlegenheit über Frankreich allein hat und daß es außerdem an seiner Ostgrenze mit Ruß- land rechnen muß. Daß er übrigens hiermit irgendeine Lockerung der englisch-französischen Entente als wünschenswert bezeichnen wolle, bestreitet Lloyd George energisch. Sein dritter Grund flößt ihm am meisten Hoff- nung ein: Er sieht in der Christenheit, namentlich aber in Westeuropa, die Auflehnung gegen den Militarismus wachsen. Ereignisse in Frankreich und Deutschland deuteten auf die gleiche Volksstimmung, die man auch in Eng- land wahrnehme. Diese neue Stimmung liefere eine fundamentale Er- wägung für eine liberale Regierung. Vor zwei oder selbst einem Jahre