88 I. 1. Deutschland nach dem Westphälischen Frieden. das politische Leben in unzählige Ströme zertheilt dahinfloß, waltete auf dem Gebiete der geistigen Arbeit die Naturgewalt der nationalen Einheit so übermächtig, daß eine landschaftliche Sonderbildung niemals auch nur versucht wurde. Alle Helden unserer classischen Literatur, mit der ein- zigen Ausnahme Kant's, sind gewandert, und haben ihre reichste Wirk- samkeit nicht auf dem Boden ihrer Heimath gefunden. In ihnen allen lebte das Bewußtsein der Einheit und Ursprünglichkeit des deutschen Wesens und das leidenschaftliche Verlangen, die Eigenart dieses Volks- thums wieder in der Welt zu Ehren zu bringen; sie alle wußten, daß das ganze große Deutschland ihren Worten lauschte, und empfanden es als ein stolzes Vorrecht, daß allein der Dichter und der Denker zu der Nation reden, für sie schaffen durfte. Also wurde die neue Dichtung und Wissenschaft auf lange Jahrzehnte hinaus das mächtigste Band der Einheit für dies zersplitterte Volk, und sie entschied zugleich den Sieg des Protestantismus im deutschen Leben. Die geistige Bewegung hatte ihre Heimath im evangelischen Deutschland, riß erst nach und nach die katholischen Gebiete des Reichs mit in ihre Bahnen hinein. Aus der Gedankenarbeit der Philosophen ging eine neue sittliche Weltanschauung, die Lehre der Humanität, hervor, die, aller confessionellen Härte baar, gleichwohl fest im Boden des Protestantismus wurzelte, und schließlich allen denkenden Deutschen, den Katholiken wie den Protestanten, ein Gemeingut wurde; wer sie nicht kannte, lebte nicht mehr mit dem neuen Deutschland. Jene mittleren Schichten der Gesellschaft aber, welche die neue Bil- dung trugen, rückten dermaßen in den Vordergrund des nationalen Lebens, daß Deutschland vor allen anderen Völkern ein Land des Mittelstandes wurde;z ihr sittliches Urtheil und ihr Kunstgeschmack bestimmten die öffent- liche Meinung. Der classische Unterricht, vordem nur ein Mittel für die Fachbildung der Juristen und Theologen, wurde die Grundlage der ge- sammten Volksbildung; aus den zerfallenden alten Ständen erhob sich die neue Aristokratie der studirten Leute, die an hundert Jahre lang der führende Stand unseres Volkes geblieben ist. Nach allen Seiten hin wirkte die literarische Bewegung erweckend und befruchtend; sie veredelte die rohen Sitten, gab der Frau das gute Recht der Herrin im geselligen Verkehre zurück; sie schenkte einem gedrückten und verschüchterten Geschlechte wieder die helle Lust am Leben. Sie schuf, indem sie die Schriftsprache Martin Luther's ausbaute, eine gemeinsame Umgangssprache für alle deutschen Stämme; erst im letzten Drittel des achtzehnten Jahrhunderts begannen die gebildeten Klassen das reine Hochdeutsch auch im täglichen Leben in Ehren zu halten. Unberührt von dem Lärm und der Hast der großen Welt konnte sich die deutsche Dichtung wunderbar lange den un- schuldigen Frohmuth, die gesammelte Andacht und die frische Werdelust der Jugend bewahren. Das war es, was Fran von Staäl noch in den Glanztagen der Weimarischen Kunst so mächtig bezauberte; sie meinte an