Deutsche und französische Aufklärung. 93 aller christlichen Glaubensgenossenschaften wurde und auch für die kühn— sten Wagnisse der Philosophie noch einen Raum bot, daß die religiöse Duldung allmählich in alle Lebensgewohnheiten der Deutschen drang, zahlreiche gemischte Ehen und bald auch gemischte Schulen den kirchlichen Frieden dieses paritätischen Volkes sicherten. Nur diese Wiedererhebung des deutschen Protestantismus erklärt jene eigenthümlichsten Charakterzüge der neuen deutschen Cultur, welche den meisten Nicht-Germanen und selbst den Engländern räthselhaft bleiben; nur sie hat es ermöglicht, daß der Deutsche zugleich fromm und frei sein konnte, daß seine Literatur protestantisch wurde und doch nicht con— fessionell. Der englisch-französischen Aufklärung steht es auf der Stirn geschrieben, daß sie emporkam im Kampfe mit der Herrschsucht unfreier Kirchen und der finsteren Hartgläubigkeit dumpfer Volksmassen; selbst der Deismus der Briten ist irreligiös, denn sein Gott redet nicht zum Ge— wissen, versieht nur das Amt des großen Maschinenmeisters der Welt. Die deutsche Aufklärung dagegen wurzelte fest im Protestantismus; sie ging der kirchlichen Ueberlieferung mit noch schärferen Waffen zu Leibe als die Philosophie der Nachbarvölker, doch die Kühnheit ihrer Kritik ward ermäßigt durch eine tiefe Ehrfurcht vor der Religion. Sie weckte die Gewissen, welche der englisch-französische Materialismus einschläferte; sie bewahrte sich den Glauben an den persönlichen Gott und an den letzten Zweck der vollkommenen Welt, die unsterbliche Seele des Menschen. Der fanatische Kirchenhaß und die mechanische Weltanschauung der fran- zösischen Philosophen erschienen den Deutschen als ein Zeichen der Un- freiheit; mit Widerwillen wendete sich Lessing von Voltaire's Spöttereien, und der Student Goethe lachte mit der Selbstgewißheit der zukunfts- frohen Jugend über die greisenhafte Langeweile des Systme de la nature. Das evangelische Pfarrhaus behauptete das achtzehnte Jahr- hundert hindurch noch seinen alten wohlthätigen Einfluß auf das deutsche Leben, nahm an dem Schaffen der neuen Literatur warmen Antheil. Wenn unsere Kunst nicht zum Besitzthume des ganzen Volks zu werden vermochte, so danken wir doch der Verjüngung des deutschen Protestan- tismus den großen Segen, daß die sittlichen Anschauungen der Höchst- gebildeten Fühlung behielten mit dem Gewissen der Masse, daß endlich Kant's Ethik auf die evangelischen Kanzeln und bis in die niedersten Schichten des norddeutschen Volks drang. Die sittliche Kluft zwischen den Höhen und den Tiefen der Gesellschaft war in Deutschland schmäler als in den Ländern des Westens. Diese erste Epoche der modernen deutschen Literatur trägt noch einen hart prosaischen Zug. Gelehrte stehen an der Spitze der Bewegung; die Dichtung wird von dem Geiste der neuen Tage noch kaum berührt; nur in Schlüter's Bauten und Bildsäulen, in den Tonwerken von Bach und Händel tritt der heldenhafte Charakter des Zeitalters groß und frei