Volksstimmung während der Fürstenrevolution. 193 der beiden großen Nationen Mitteleuropas, sollte noch Fleisch und Blut gewinnen. In diese Zeiten der Erfüllung trat Deutschland ein, als der theokratische Staatsbau seines Mittelalters zusammenstürzte und also das politische Testament des sechzehnten Jahrhunderts endlich vollstreckt wurde. Aber wie viele Kämpfe und Stürme noch, bevor alle die großen Wandlungen des neuen Zeitalters vollbracht waren! Vorderhand bot das deutsche Reich den trostlosen Anblick der Zerstörung; kein Seher ahnte, welches junge Leben dereinst aus diesen Trümmern erblühen sollte. Nur das Eine war unverkennbar, daß eine zweite Umwälzung nahe be— vorstand. Die Revolution hatte ihr Werk nur halb gethan, da Bona- parte von vornherein beabsichtigte die deutschen Dinge im Fluß zu halten. Seit dem glücklichen Beutezuge durchbrach die alte Ländergier des deutschen Fürstenstandes alle Schranken; sie ergriff die Glückskinder des Bona- partismus wie ein epidemischer Wahnsinn und bestimmte während des nächsten Jahrzehntes die gesammte Politik der neuen Mittelstaaten. Die Reichsritter, Grafen und Herren konnten in dieser unruhigen monarchischen Welt sich nicht mehr behaupten; durch den Untergang ihrer Standes- genossen am linken Rheinufer sowie durch die Aufhebung der Domcapitel hatten sie den Boden unter den Füßen verloren und waren selber nur darum vorläufig verschont geblieben, weil die französische Politik sich noch nicht in der Lage befand alle ihre Pläne durchzusetzen. Der Reichsdepu- tationshauptschluß war kaum unterzeichnet, da begannen bereits mehrere Fürsten die benachbarte Reichsritterschaft gewaltsam zu mediatisiren, wie der modische Ausdruck lautete. Der Kaiser nahm sich in Regensburg seiner verfolgten Getreuen an, aber Preußen ergriff wieder die Partei der Fürsten, und unterdessen ward ein Reichsritter nach dem andern von den gierigen Nachbarn gebändigt. Die Haltung des neuen Reichstags unterschied sich in nichts von dem alten; Jean Paul verglich ihn witzig mit einem großen Polypen, der seine formlose Gestalt nicht ändere und wenn er noch so viel herunter- geschlungen habe. Mit dem altgewohnten unfruchtbaren Gezänk kam auch die hergebrachte reichspatriotische Phrase in die neue Zeit mit hinüber. Der Gesandte des Erzkanzlers Dalberg bewillkommnete die Vertreter der neuen Kurfürsten mit dem pomphaften Gruße: „das alte ehrwürdige Reichsgebäude, das seinem gänzlichen Untergange so nahe schien, wird heute durch vier neue Hauptpfeiler unterstützt.“ Aber Niemand theilte die Zuversicht des ewig begeisterten flachen Leichtsinns. Dumpf, leer und träge schleppten sich die Verhandlungen dahin; keiner der Gesandten wagte auch nur die Frage aufzuwerfen, ob das in seinen Grundlagen veränderte Reich noch die alte Verfassung behalten könne. Jedermann fühlte, daß in Wahrheit schon Alles vorüber war, und sah mit verschränkten Armen die Stunde nahen, die den Regensburger Jammer für immer beendete. Im Volke blieb Alles still. Keine Hand erhob sich zum Widerstande v. Treitschke, Deutsche Geschichte. I. 13