196 I. 2. Revolution und Fremdherrschaft. Homer zu sprechen. Jedes Gedicht war ein Ereigniß, ward in ausführ- lichen Briefen und Kritiken betrachtet, zergliedert, bewundert. Alle die unvermeidlichen Unarten literarischer Epochen, Klatsch und Parteigeist, Gefühlsschwelgerei, Paradoxie und eitler Selbstbetrug hatten freies Spiel; doch selbst aus den Schwächen der Zeit sprach die Lebenskraft und Lebenslust eines hochbegabten und hochsinnigen Geschlechtes, dem die Welt der Ideen die allein wirkliche war. Ganz unbefangen lobte Wilhelm Humboldt die göttliche Anarchie des päpstlichen Roms, weil sie den Denker im Sinnen und Schauen nicht störe: — was galten ihm die Römer von Fleisch und Blut neben den Geisterstimmen, die aus den Marmorbildern des Vaticans redeten? Im selben Sinne beklagte Schiller die Leere seines revolutionären Zeitalters, das den Geist aufrege ohne ihm einen Gegenstand — das will sagen: ein ästhetisches Bild — zu bieten. Wer den tiefen heiligen Ernst dieses Idealismus und die Fülle geistiger Kräfte, welche er zu seiner Durchbildung aufbrachte, gerecht würdigt, der wird die politische Unfähigkeit des Zeitalters nicht mehr räthselhaft finden. Die Kargheit der Natur setzt der Schöpferkraft der Völker wie der Einzelnen ein festes Maß, verhängt über jedes große menschliche Wirken den Fluch der Einseitigkeit. Es war unmöglich, daß ein Geschlecht von solcher Energie des geistigen Schaffens zugleich die kalte Berechnung, den listigen Welt- sinn, den entschlossenen Einmuth und den harten Nationalhaß hätte be- sitzen sollen, welche den unerhörten Gefahren der politischen Lage allein Trotz bieten konnten. Wie Luther seines Gottes voll für die Bilderpracht des leoninischen Roms kaum einen Blick übrig hatte, so wendeten die Helden der neuen deutschen Bildung absichtlich ihre Augen hinweg von der Ver- heerung, die über den deutschen Südwesten dahinfluthete, und dankten mit Goethe dem Schicksal, „weil wir in der unbeweglichen nordischen Masse stecken, gegen die man sich so leicht nicht wenden wird."“ In der Freundschaft Schiller's und Goethe's fand die menschliche Liebenswürdigkeit und die schöpferische Macht der neuen Bildung ihren vollendeten Ausdruck. Die Deutschen rühmten sich von Altersher, kein anderes Volk habe die Blüthe der Männerfreundschaft, das neidlose treue Zusammenwirken großer Menschen zu großem Zwecke so oft gesehen; und unter den vielen schönen Freundschaftsbünden ihrer Geschichte war dieser der herrlichste. Zehn reiche Jahre hindurch überschütteten die beiden Freunde ihr Volk unablässig mit neuen Geschenken und bewährten selbander den Goethischen Spruch: Genie ist diejenige Kraft des Menschen, welche durch Handeln und Thun Gesetz und Regel giebt. Und in solcher Fülle des Schaffens gaben sie doch nur einen Theil ihres Wesens aus; sie wußten, daß dauernder Nachruhm Keinem gebührt, der nicht größer war als seine Werke. Unvergeßlich prägte sich in die Herzen der Jugend dies einzige Bild künstlerischer und menschlicher Größe: wie diese beiden durch Schicksal,