Literarischer Nationalstolz. 211 es giebt nur eine Tugend: sich selbst als Person zu vergessen, und nur ein Laster: an sich selbst zu denken. Der also sprach, wußte selber noch nicht recht, daß er in seinen herben Mahnungen an die schlaffe Zeit die mannhaften Tugenden des alten Preußens verherrlichte. Nur als eine kühne Ahnung warf er den Gedanken hin, der mit seinen weltbürgerlichen Träumen in schneidendem Widerspruche stand: am letzten Ende sei doch der Staat der Träger aller Cultur und darum berechtigt, jede Kraft des Einzelnen für sich in Anspruch zu nehmen. Also bereitete sich im Schoße der Literatur selber eine neue politische Bildung vor. Wer die unheimlichen Widersprüche der deutschen Zustände nur flüchtig betrachtete — solche Blüthe des geistigen und solchen Jammer des politischen Lebens dicht neben einander — der mochte sich wohl an jene Zeiten des makedonischen Philippos gemahnt fühlen, da die Thebaner auf dem Grabe griechischer Freiheit, auf dem Schlachtfelde von Chaironeia das herrliche Löwendenkmal errichteten und Lykurgos das besiegte Athen mit seinen Prachtbauten schmückte: ganz so unsicher wie einst Hellas zwischen Persien und Makedonien stand das gedankenschwere Deutschland zwischen Oesterreich und Frankreich. In Wahrheit lagen die deutschen Dinge keineswegs so hoffnungslos. Der trübselige Spruch, daß die Eule der Minerva erst in der Dämmerung ihren Flug beginne, gilt für Hellas, nicht für Deutschland. Unsere classische Literatur war nicht das Aus— klingen einer alten Gesittung, sondern der vielverheißende Anfang einer neuen Entwicklung. Hier faßte kein Aristoteles die letzten Ergebnisse einer Cultur, die zu Grabe ging, in einem großen Gedankensysteme zusammen, sondern ein junges, in allen seinen Verirrungen lebensfrohes und zukunfts— sicheres Geschlecht überraschte die Welt mit immer neuen Entdeckungen. Keinen Augenblick ist den geistigen Führern der Nation der Glaube an Deutschlands große Bestimmung abhanden gekommen. Trotz ihrer elenden Verfassung, sagte A. W. Schlegel, und trotz ihrer Niederlagen bleiben die Deutschen doch die Rettung Europas. Im selben Sinne schrieb Novalis: während andere Völker in Parteikämpfen oder in der Jagd nach dem Gelde ihre Kraft vergeudeten, bilde sich der Deutsche mit allem Fleiße zum Zeitgenossen einer höheren Epoche der Cultur und werde im Laufe der Zeit ein großes Uebergewicht über die anderen erlangen. Selbst der schwermüthige Hölderlin, dem die Ohnmacht der „thatenarmen und ge— dankenvollen“ Deutschen am Herzen fraß, rief doch in freudiger Ahnung: Oder kommt, wie der Blitz aus dem Gewölke kommt, Aus Gedanken die That? Leben die Bücher bald? Die Gesinnung der Knechte ist diesem Geschlechte von Dichtern und Denkern immer fremd geblieben. Wohl sendete auch Deutschland seine Pilger zu dem großen Fremdenzuge, der während des Consulats und der ersten Jahre des Kaiserreichs von allen Enden Europas nach Paris strömte. Die ersten Kunstschätze der Erde lagen dort aufgespeichert, wie 14*