Die Schmähschriften. 290 und ebenso regelmäßig die Zeichen der Zeit verkannte. Gemeinsam war diesen Schriften auch ein echt deutscher Charakterzug, eine nationale Schwäche, wovon nur wenige unserer Publicisten ganz frei geblieben sind: die eigenthümliche Unfähigkeit die Dimensionen der Menschen und der Dinge recht zu sehen, das Große und Echte von dem Kleinen und Ver- gänglichen zu unterscheiden. Ganz in dem gleichen Tone wie Lombard und Haugwitz wurden auch Hardenberg und Blücher von jenen Alles- tadlern mißhandelt, und den Lesern blieb nur der trostlose Eindruck, daß in dem faulen Holze dieses Staates kein Nagel mehr haften wolle. Indeß die Noth des Tages drückte allzuschwer; das Volk dachte zu ehrenhaft um sich noch lange beim rückwärtsschauenden Tadel aufzuhalten. Wer ein Mann war blickte vorwärts, dem Tage der Freiheit entgegen. Die Schmähschriften fielen platt zu Boden; selbst in Berlin fand die Kritik der Lästerer geringen Anklang. Ein tiefer Ernst lagerte auf den Gemüthern; es war als ob alle Menschen reiner und besser würden, als ob der Zorn über den Untergang des Vaterlandes alle gemeinen und niedrigen Regungen des Herzens ganz aufsöge. Niemals früher hatte ein so lebendiges Gefühl der Gleichheit Hoch und Niedrig im deutschen Nor- den verbunden: man rückte traulich zusammen wie die Hinterbliebenen im verwaisten Hause. Unzählige Vermögen waren zerstört, der ganze Reich- thum des preußischen Adels darauf gegangen; die willkürliche neue Länder- vertheilung hatte den altgewohnten Verkehr ganzer Landestheile vernichtet; tausende treuer Diener konnte der verstümmelte Staat nicht mehr be- schäftigen. Wer jung iw's Leben eintrat und dem Glückssterne der rhein- bündischen Untreue nicht folgen wollte, fand nirgend eine Stätte zu fröhlichem Wirken; man wußte in diesen napoleonischen Tagen nichts mit sich anzufangen, wie Dahlmann, seiner harten Jugendzeit gedenkend, sagte. Die Erbitterung wuchs und wuchs, und je weiter sich die Entscheidung hinausschob, um so mächtiger und leidenschaftlicher war der Glaube, dies Eintagsgebilde der Fremdherrschaft könne und dürfe nicht dauern, diese Verwüstung alles deutschen Lebens sei eine Sünde wider Gott und Ge- schichte, sei der Fiebertraum eines hirnwüthigen Frevlers. Während dieser Tage krampfhafter Aufregung erwachte in Nord- deutschland zuerst die Idee der deutschen Einheit — recht eigentlich ein Kind des Schmerzes, der historischen Sehnsucht, einer ebenso sehr poetischen als politischen Begeisterung. Wie felsenfest hatte das achtzehnte Jahr- hundert an die Ewigkeit seines römischen Reichs geglaubt. Wie zahm, zufrieden und liebevoll hatte noch das Geschlecht der neunziger Jahre an seinen Fürsten gehangen, als Georg Forster in dem Gedenkbuche des Jahres 1790 mit beweglichen Worten die „menschenfreundliche Handlung eines deutschen Fürsten“ schilderte und Chodowiecki in einem Kupferstiche diesen großen Menschenfreund verewigte — den Erzherzog Max nänlich, wie er einer Marktfrau den Korb auf den Kopf zu nehmen half! Jetzt