Alexander's polnische Pläne. 385 Währenddem erkannte Alexander, daß der Bund von Tilsit zerrissen war, und alsbald stiegen in der Seele des Leichtbeweglichen neue phan- tastische Träume auf, Pläne ebenso glückverheißend für die Freiheit der Welt wie vortheilhaft für die Ländergier des Hauses Gottorp. Er kehrte zurück zu jenen polnischen Projecten, die er vor Jahren mit Czartoryski besprochen und schrieb im December 1810 dem polnischen Freunde: seine Absicht sei, dem Imperator den Rang abzulaufen und gleich beim Be- ginne des Kriegs die Freiheit Polens auszurufen — natürlich die Frei- heit unter russischem Scepter. Er wollte als Selbstherrscher aller Reussen und König von Polen im Osten despotisch, im Westen parlamentarisch regieren, als der Hersteller Polens in dem Gedächtniß ferner Jahrhun- derte leben und dem befreiten Nachbarlande eine musterhafte Verfassung schenken, denn „Sie wissen, die liberalen Formen habe ich immer vorge- zogen“. Folgten die Polen dem Rufe ihres Befreiers, so könne er „ohne einen Schuß zu thun“ bis an die Oder vorgehen, Preußen schließe sich selbstverständlich an, und mit entschiedener Uebermacht, mit 230,000 Mann, die bald noch um weitere hunderttausend verstärkt würden, beginne dann der Kampf für die Befreiung Europas; mehr als 155,000 Mann habe Napoleon nicht entgegenzustellen, und darunter nur 60,000 Franzosenl! So tief unterschätzten die alten Mächte noch immer die Macht des Welt- reichs, selbst einsichtige Offiziere kamen von dem allgemeinen Irrthum nicht los; berechnete doch Radetzky im Jahre 1810 ebenfalls, daß nur 60,000 Franzosen gegen Rußland marschiren könnten, und Gneisenau schätzte noch ein Jahr darauf die Gesammtmasse der gegen den Osten verfügbaren napoleonischen Streitkräfte auf 200,000 Mann. Mit glückseliger Zuversicht baute der Czar auf seinen rettenden Ge- danken. Er hielt es für so schwer nicht, selbst Oesterreichs Zustimmung zu gewinnen und schrieb dem Kaiser Franz: möge die Hofburg die Donau- provinzen und selbst Serbien für sich nehmen, wenn sie sich nur der großen Coalition anschließe und die Wiederherstellung Polens gestatte. Dem Wiener Hofe aber erschienen diese polnischen Pläne, begreiflich genug, fast noch unannehmbarer als vorher die Anschläge gegen die Donau- mündungen. Er lehnte jede Verhandlung ab; seine Staatsmänner sagten unverhohlen: die russische Politik ist wie ein Kind, sie weiß nicht was sie will. In der That sollten die sarmatischen Projecte rasch im Sande verlaufen. Czartoryski versagte sich den Mahnungen Alexander's; das polnische Blut war stärker als die Freundschaft für den Czaren. Der kluge Pole errieth sofort, daß seine Landsleute, getreu den nationalen Ueberliefe- rungen, im französischen Lager bleiben würden, und hoffte die Herstellung seines Vaterlandes von Napoleon's Siegen. Er wollte tout ce qui est Pologne, also auch Danzig und Westpreußen wieder unter den Fahnen des weißen Adlers vereinigen und verhielt sich kühl, sobald er bemerkte, wie weit diese bescheidenen Ansprüche über die Absichten des Czaren hinausgingen. v. Treitschke, Deutsche Geschichte. I. 25