Steigende Erbitterung des Krieges. 545 erschütterte den sittlichen Ernst der Truppen; namentlich die Landwehr war oft schwer in Zucht zu halten. Das Plündern wurde fast zur Noth— wendigkeit, da die Dörfer allesammt leer standen und die räuberischen Russen den preußischen Kameraden wenig übrig ließen. In tiefster Seele empört hielt York einmal seinen Tapferen ihre Zügellosigkeiten vor und zeigte ihnen das Suum cuique auf seinem Ordenssterne. Napoleon ließ im Volke ungeheuerliche Märchen von den Greueln der kinderfressenden Fremdlinge verbreiten; er betrachtete die zunehmende Verwilderung des Krieges mit cynischem Behagen: um so besser, rief er aus, dann greift der Bauer zur Flinte! Das Aergste freilich, was preußische Soldaten während dieser letzten wilden Wochen des Krieges verübten, reichte nicht von fern an die Unthaten der Franzosen in Deutschland heran; und während die napoleonischen Marschälle ihrer Mannschaft mit schmählichem Beispiele vorangingen, thaten die preußischen Offiziere und Freiwilligen das Menschenmögliche um die Roheit der Masse zu bändigen. Kein ein- ziger deutscher General, der nicht mit reinen Händen aus dem reichen Frankreich zurückkehrte. Genug, bei der ersten Gunst des Kriegsglücks flammte der alte Na- tionalhaß wieder auf und die Friedenswünsche verflogen. Mit vollem Rechte fühlte Napoleon sich seines Thrones sicher. Von innen heraus drohte ihm keine Gefahr. Der Name der Bourbonen war überall ver- schollen, bis auf einige royalistische Gegenden des Südens und Westens; was über die Tage des Bastillesturmes hinauslag, lebte nicht mehr im Gedächtniß dieses durch und durch modernen Volkes. Kam ja einmal die Rede auf das alte Königshaus, so dachte der Bauer grollend an den Druck der Zehnten und Frohnden. Bernadotte galt allgemein als ein elender Landesverräther, und wer sonst sollte noch die Erbschaft des Im- perators antreten? Wenn Napoleon die geschlagene schlesische Armee unaufhaltsam verfolgte, so stand außer Zweifel, daß die große Armee den Rückzug zum Rheine antrat, und dann war ein glorreicher Friedens- schluß dem Kaiserreiche sicher. Aber wie Schwarzenberg aus Furchtsamkeit die Früchte des Sieges von La Rothiêère zu pflücken versäumt hatte, so unterließ jetzt Napoleon aus Uebermuth die Ausbeutung seiner Erfolge. Die schlesische Armee besteht nicht mehr — rief er frohlockend; er meinte wieder näher an München als an Paris zu sein und vermaß sich bald nochmals die Weichsel zu erreichen. Von der sittlichen Widerstandskraft, die in Blücher's Hauptquartiere lebte, ahnte er noch immer nichts. Statt diese gefährlichsten Feinde bis zur Vernichtung zu bedrängen, warf er sein Heer plötzlich südwärts an die Seine, schlug einige vereinzelte Corps der großen Armee, zwang den Kronprinzen von Württemberg, die steilen Abhänge des Seinethals bei Montereau zu verlassen und bewirkte in der That, daß der erschreckte Schwarzenberg mit seinem ungeheuren Heere an der Seine aufwärts zurückwich und an Blücher dringende Bitten um Hilfe sendete. v. Treitschke, Deutsche Geschichte. J. 35