630 II. 1. Der Wiener Congreß. auszuliefern! Noch mehr. Der Lord forderte, sämmtliche in der polnischen Sache gewechselten Schriftstücke sollten dem Congresse vorgelegt, alle europäischen Staaten aufgefordert werden den Plänen Rußlands ent— gegenzutreten. In seinem blinden Eifer nahm er also harmlos Talley— rand's Vorschläge wieder auf und wollte, den Verträgen entgegen, alle Kleinstaaten in die polnischen Händel hineinziehen; das hieß Frankreich zum Schiedsrichter Europas erheben! In einer dritten Denkschrift vom 4. November gestattete er sich vollends eine Sprache, wie sie sonst nur dicht vor Ausbruch eines Krieges gehört wird. Er erklärte, die Ansichten des Czaren „würfen alle zwischen den Staaten hergebrachten Grundsätze von Treu und Glauben zu Boden“, und betheuerte nochmals: ein russi— scher Kaiser, der bis zur Prosna herrsche, werde nach Belieben seine Heere an die Donau und die Oder werfen, Oesterreich und Preußen völlig in Schach halten. Es war, als ob der Lord den Czaren zum äußersten Widerstande aufreizen wollte. In der That fühlte sich Alexander tief beleidigt und gab in zwei Denkschriften (vom 30. October und 21. November) eine schroff ablehnende Antwort. In hochtrabenden Worten entwickelte er die Anschauungen, welche seitdem in der halbamtlichen russischen Geschicht— schreibung herrschend geblieben sind: Rußland konnte im Frühjahr 1813 leicht einen glorreichen Frieden schließen und hat nur um Europas willen den Kampf weiter geführt; die geforderte Vergrößerung ist für die Nach— barn nicht bedrohlich, aber nothwendig um die Russen wie die Polen zu beruhigen. Dazu eine wohlverdiente Abfertigung für den Lord: ein Ver— mittler ist nur dann nützlich, wenn er die Geister einander näher führt! — Ging man auf solchem Wege weiter, so trieb die nach Frieden schmachtende Welt einem neuen Kriege entgegen. Währenddem ward dem preußischen Staatskanzler doch unheimlich inmitten seiner sonderbaren Bundesgenossen. Er sah den britischen Ver— mittler Forderungen aufstellen, die mit Preußens eigener Ansicht nichts mehr gemein hatten, und war noch immer nicht sicher, ob seine treuen Freunde ihn bei seinen sächsischen Plänen unterstützen würden. Hardenberg beschloß also sich Gewißheit zu verschaffen und sendete am 9. October einen warmen und treuherzigen Brief an Metternich: Preußen will dem weisen Systeme d'une Europe intermèédiaire (d. h. dem engeren Bund der drei „deutschen“ Großmächte) treu bleiben, muß aber in seiner unsicheren Lage zunächst an seine eigenen Interessen denken und fordert daher offene Antwort auf folgende drei Fragen: stimmt Oesterreich der Einverleibung von ganz Sachsen zu? genehmigt die kaiserliche Regierung die Versetzung Friedrich August's nach den Legationen? verzichtet sie auf den Gedanken Mainz an Baiern auszuliefern? (Ueber diese Absicht Oesterreichs, welche Hunboldt noch vor zwei Monaten nicht gekannt, war also Hardenberg endlich in's Klare gekommen.) Wenn die kaiserliche Regierung diese drei Fragen bejaht und