638 II. 1. Der Wiener Congreß. Freunde verständigten sich, und der König wagte nun endlich, seinen Diplo- maten die Politik anzubefehlen, welche er schon seit Monaten für die einzig sichere hielt: er befahl dem Staatskanzler, fortan nicht mehr feindlich gegen Rußland vorzugehen. Friedrich Wilhelm hatte die Wiedererwerbung der Millionen treuloser Polen nie gewünscht und konnte also nur mit Be- fremden erfahren, wie hartnäckig England und Oesterreich nach der Weichsel- grenze verlangten. Er wußte besser als Hardenberg, welche Hemmnisse sich der Einverleibung Sachsens entgegenstellten; er hatte aus vertrautem persönlichem Umgang richtig herausgefühlt, daß der Czar für Preußen mindestens mehr aufrichtiges Wohlwollen hegte als der gute Kaiser Franz. Sein schlichter Verstand begriff nicht, warum Preußen — auf die Gefahr hin seinen besten Bundesgenossen zu verlieren — um jeden Preis den phantastischen Gedanken des russisch-wpolnischen Königthums bekämpfen sollte, der für Rußland selbst weit gefährlicher war als für Deutschland. Nun, da er seine eigenen Staatsmänner rathlos hin und her schwanken sah, griff er selber durch und bewährte wieder den klaren, sicheren Soldaten- blick, den er am Tage von Kulm und so oft auf den Schlachtfeldern des letzten Winterfeldzuges gezeigt hatte. Die persönliche Neigung mag dabei mitgewirkt haben, doch der Drang des Gemüths stimmte überein mit der nüchternen politischen Berechnung. Hardenberg fühlte sich tief gekränkt durch das entschiedene Auftreten seines königlichen Herrn und dachte ernstlich daran seinen Abschied zu for- dern; Metternich und Castlereagh suchten ihn in diesem Entschlusse zu be- stärken. Die Schwenkung des Königs wurde sofort von den gewandten Geg- nern ausgebeutet. Die Franzosen setzten ein effectvolles Märchen in Umlauf: wie Alexander durch brünstige Zärtlichkeitsbetheuerungen seinen Freund und sich selber in sanfte Rührung hineingeredet und dann dem arglosen König das verhängnißvolle Versprechen abgenommen habe. Die anmuthige Erfin- dung fand bei den erbosten fremden Diplomaten um so leichter Gehör, da der Entschluß des Königs ihre sämmtlichen Berechnungen über den Haufen warf; seit dem bekannten Auftritte am Grabe Friedrich's des Großen wußte ohnehin Jedermann, wie Großes der Czar in kunstvollen Rührscenen zu leisten vermochte. Talleyrand verkündete schon am 7. November frohlockend an Gentz den großen Verrath der Preußen und gab dann die Parole aus, welche bald von Metternich und Castlereagh nachgesprochen wurde: Preußen hat „die Sache Europas“ aufgegeben und darf darum Sachsen nicht er- halten! Dieser Abfall der falschen Freunde ist aber nicht durch den König verschuldet worden; er wäre vielmehr, auch ohne die That Friedrich Wilhelm's, unzweifelhaft nach einigen Wochen, und dann unter Mitwir- kung des Czaren selber, eingetreten. Es bleibt das Verdienst des Mon- archen, daß er seinem Staate für den unausbleiblichen Zusammenstoß mit Oesterreich und den Westmächten den Beistand Rußlands und also doch mindestens eine leidliche Entschädigung sicherte.