654 II. 1. Der Wiener Congreß. werke am rechten Ufer zu bemächtigen; sie genügten um den Platz in Schach zu halten, zur Besetzung der ganzen Festung reichten die beschei- denen Kräfte nicht aus. Auch die anderen Festungen ließ Boyen insge- heim ausrüsten. Die sächsischen Truppen am Rhein wurden ohne Auf- sehen weiter nordwärts, in die Nähe preußischer Regimenter verlegt. Von den kleinen norddeutschen Contingenten nahm Boyen an, daß sie alle- sammt, mit Ausnahme der Hannoveraner, den Fahnen Preußens folgen müßten. Die Monarchie war entschlossen sogleich als der Herr von Nord- deutschland aufzutreten; wer durfte in einem solchen Daseinskampfe nach dem Zetergeschrei und den Souveränitätsverwahrungen der Kleinfürsten fragen? Inmitten dieser allgemeinen Verwirrung sah Talleyrand seinen Wei- zen blühen. Nachdem ihm Metternich die letzte österreichische Note über Sachsen amtlich mitgetheilt hatte, hielt sich der Franzose nunmehr be- rechtigt, selber von Amtswegen in die sächsischen Händel einzugreifen und antwortete dem österreichischen Freunde am 19. December. Da die pol- nische Frage zu einer einfachen Grenzfrage geworden sei, so sei die sächsische Angelegenheit gegenwärtig die wichtigste Prinzipienfrage für den Welt- theil. Hier stehen die beiden Grundsätze der Legitimität und des Gleich- gewichts zugleich auf dem Spiele. Man verbreitet heute die entsetzliche Lehre, daß Könige verurtheilt werden können, daß die Strafe der Confis- cation wieder eingeführt werden darf, daß die Völker wie die Herden eines Meierhofes getheilt werden dürfen, daß es kein öffentliches Recht giebt, „daß für den Stärkeren Alles gerecht ist.“ Aber Europa verflucht diese Grundsätze; „sie erregen den gleichen Abscheu in Wien, in Peters- burg, in London, in Madrid und Lissabon“ (also nicht in Berlin). Die Einverleibung Sachsens würde aber auch das Gleichgewicht Europas zer- stören, inmitten des Deutschen Bundes „eine unverhältnißmäßige Angriffs- macht“ schaffen. Darum Herstellung des legitimen Königs; sind einige Abtretungen zur Entschädigung Preußens unvermeidlich, so wird Frank- reich dem rechtmäßigen Herrscher dazu rathen. Durch diese Note warf Talleyrand den geheimen Artikel des Pariser Friedens den vier Mächten zerrissen vor die Füße. Nachdem er lange nur im Dunkeln gegen den Vertrag angekämpft, drängte er sich jetzt mit einer amtlichen Denkschrift in die Territorialverhandlungen ein, von denen Frankreich vertragsmäßig ausgeschlossen war, und unterstützte den öster- reichischen Vorschlag der Theilung Sachsens — was ihn freilich nicht abhielt, im selben Athemzuge den Fluch Europas wider die Politik der Ländervertheilung auszusprechen. Eine zweite Note des Franzosen an Castlereagh (v. 26. Dee.) schlug jenen Ton legitimistischer Salbung an, welcher den Hochtorys unwiderstehlich war. Der Zweck des Congresses ist, „die Revolution zu schließen“; früher bekämpften sich Republik und Monarchie, heute die revolutionären und die legitimen Dynastien; die