Die öffentliche Meinung. 677 Gleichzeitig, unter Männern von ganz verschiedener Bildung, ward die zuversichtliche Weissagung laut: wie die kirchliche Reformation im sech— zehnten, so werde die politische im neunzehnten Jahrhundert von Deutsch- land über die Welt hinausgehen. Zu diesen modernen Gedanken gesellten sich romantische Erinnerungen aus Deutschlands ältester Geschichte: die un- vergeßliche Schande der Regensburger Tage schien wie ausgelöscht, mit der Herstellung von Kaiser und Reich mußte auch die Macht der Ottonen den Deutschen wiederkehren. Niemals hat sich ein hochbegabtes und hoch- gebildetes Geschlecht in so kindlich unklaren politischen Vorstellungen be- wegt; Alles was diese Zeit über den Staat dachte kam aus dem Gemüthe, aus einer innigen, überschwänglichen Sehnsucht, die ihre Ideale nach Belieben bald in der Vergangenheit bald in der Zukunft suchte. Ganz unbefangen verschmolz man das Uralte mit dem Allerneuesten: während der Rheinische Mercur das Scharnhorstische Heerwesen und die Aufhebung aller deutschen Binnenmauthen empfahl, holte er zugleich Dante's Mon- archia aus dem Staube hervor und meinte durch die Ideen des drei- zehnten Jahrhunderts die Leiden der neuen kaiserlosen Zeit zu heilen. Daß der Politiker bei der Stange bleiben, für seine Gedanken einstehen soll, war der Mehrzahl dieser Publicisten noch unbekannt; harmlos, un- maßgeblich gab Jeder in Zeitungen und Flugschriften seine Wünsche und Einfälle zum Besten, gern bereit auch die entgegengesetzte Ansicht sich anzueignen. Arndt erklärte geradezu: „die Zeit ist jetzt so, daß ein ge- scheidter Mann bloß Ideen aussäen darf aus der Lust des Säens und weil er die Nothwendigkeit begriffen hat, daß die in mancher Hinsicht noch immer zu trägen germanischen Geister aufgeschüttelt werden.“ — Wie richtig hatte doch Fichte seine Zeitgenossen beurtheilt, da er sagte, der Deutsche könne nie ein Ding allein wollen, er müsse auch stets das Gegentheil dazu wollen! Und welches krankhaft überspannte Selbstgefühl mitten in dieser Zer— fahrenheit der öffentlichen Meinung! Unablässig versichern die Blätter: Einzelheiten ausgenommen ist die ganze Nation vollkommen mit sich ein— verstanden und weiß was ihr frommt und was sie zu fordern berechtigt ist; mit unendlicher Verachtung reden sie von dem Lottospiele der Poli- tiker und den Spiegelfechtereien der Diplomatik. Dies tapfere Geschlecht durfte sich mit gerechtem Stolze eines Heldenkampfes rühmen, und da nun der Verfassungsbau des neuen Deutschlands so lächerlich weit zurück blieb hinter den kühnen Erwartungen des Befreiungskriegs, so entstand in der Nation ein verhängnißvoller Irrthum, der durch zwei Menschenalter wie ein Fluch auf dem deutschen Leben gelegen hat: der Wahn, als ob die Zersplitterung des Vaterlandes allein die Schuld der Höfe sei und nicht ebenso sehr die Schuld dieses zwischen Wollen und Nichtwollen, zwischen patriotischer Sehnsucht und particularistischer Gewöhnung hin und her schwankenden Volkes selber. Die Sprache der Publicistik zeigte