Des Epimenides Erwachen. 37 die ihm in diesen stürmischen Jahren die Reinheit der Empfindung bewahrt hatten. Freier, heiterer blickte Goethe fortan auf den Befreiungskrieg zurück, und für das Standbild, das die Stände Mecklenburgs in Rostock ihrem Blücher errichteten, schrieb er die Zeilen: In Harren und Krieg, In Sturz und Sieg Bewußt und groß, So riß er uns Vom Feinde los! Sobald die Waffen schwiegen machte er sich auf „zu des Rheins gestreckten Hügeln, hochgesegneten Gebreiten“. Zwei glückliche Sommer, 1814 und 1815 verbrachte er in den befreiten rheinischen Landen, die ihn mit ihrem sonnenhellen Leben immer vor allen anderen deutschen Gauen anheimelten. Das Herz ging ihm auf, da er überall den alten rheinländischen Frohsinn, den freundnachbarlichen Verkehr zwischen den beiden Ufern wiedererwachen sah, und droben auf dem Rochusberge bei Bingen, wo die französischen Vorposten so lange ihren Lugaus gehalten, das Volk wieder zum heiteren Kirchenfeste zusammenströmte. In den Blät- tern, die er zum Gedächtnis dieser frohen Tage schrieb, erschien der Greis wieder ganz so lebensfroh und weinselig wie einst der Straßburger Stu- dent. Auch die Forschungen jener Straßburger Zeit nahm er jetzt im freundlichen Verkehre mit Bertram und den Gebrüdern Beisseree wieder auf. Er freute sich an dem Kölner Dome, besuchte alle die alten Bau- werke am Main und Rhein und verweilte lange in Heidelberg: dort stand jetzt die altdeutsche Gemäldesammlung der Gebrüder Boisseree mit dem Bartholomäus-Altar und dem gewaltigen Bilde des heiligen Christophorus, ein Wanderziel für alle jungen Teutonen, die Wiege unserer neuen Kunst- forschung. Die Gestalten Dürers, „ihr festes Leben und Männlichkeit, ihre innere Kraft und Ständigkeit“ hatten den Dichter schon in seiner Jugend mächtig angezogen; wie tat es ihm wohl, jetzt auch an den Werken der altniederländischen und der kölnischen Malerschule den Fleiß, die Bedeut- samkeit, die Einfalt der deutschen Altvordern zu bewundern. Ach Kinder, rief er aus, was sind wir dumm: wir bilden uns ein, unsere Großmütter seien nicht auch schön gewesen! Auch der Nibelungen nahm er sich nach- drücklich an, gegen Kotzebue und die anderen platten Gesellen, die über die reckenhafte Großheit des germanischen Altertums ihre Witze rissen. Den Drillingsfreunden in Köln, den Boisserees und ihrem Genossen Ber- tram, „die zum Vergangenen mutig sich kehren“, sendete er zum An- denken sein Bild mit freundlichen Versen. Die christlich-germanischen Schwarmgeister frohlockten, nun sei dieser Berg zu Tal gekommen, nun habe der alte Heidenkönig dem deutschen Festkinde, dem Kölner Dome huldigen müssen; sie rechneten den Dichter bereits zu den Ihren und hofften demnächst eine christliche Iphigenie erscheinen zu sehen.