58 II. 3. Geistige Strömungen der ersten Friedensjahre. erlebte sich den Gedanken der nationalen Einheit, sie fühlte sich überall auf deutschem Boden heimisch; sie lernte, daß der Kern unseres Volks— tums trotz der Mannigfaltigkeit der Lebensformen in allen deutschen Gauen derselbe ist und sah mit wachsendem Unwillen auf die künstlichen trennenden Schranken, welche die Politik mitten durch dies einige Volk gezogen hatte. Leider wurden fast nur die Norddeutschen dieser Erkennt— nis teilhaftig. Da Niederdeutschland von den romantischen Herrlichkeiten, welche diesem Geschlechte allein als sehenswert galten, nur wenig bot, so kamen die Süddeutschen selten aus ihren schönen heimischen Bergen her— aus. Während im Norden bald kaum ein gebildeter Mann mehr lebte, der nicht etwas von Land und Leuten des Südens gesehen, blühte im Oberlande die partikularistische Selbstgefälligkeit, das Kind der Unkennt— nis. Süddeutschland blieb noch auf lange hinaus die Hochburg der ge— hässigen Stammesvorurteile. Im Norden fanden sich, außerhalb Ber— lins, immer nur einzelne Toren, die den Süddeutschen Verstand und Bildung absprachen. Weit häufiger hörte man im Süden die Lästerrede, den Norddeutschen fehle das Gemüt; mancher wackere Oberländer stellte sich die Landschaften nördlich des Mains wie eine endlose traurige Ebene vor und meinte, unter diesem winterlichen Himmel gedeihe nur noch Sand und ästhetischer Tee, Kritik und Junkertum. Der mächtige Umschwung der gesamten Weltanschauung, der sich innerhalb der deutschen Wissenschaft, seit ihrer Einkehr in das historische Leben, zu vollziehen begann, der ganze Gegensatz des alten und neuen Jahrhunderts fand schon zur Zeit des Wiener Kongresses einen denk- würdigen Ausdruck in einem gelehrten Streite, dessen tiefer Sinn im Ausland noch gar nicht, in Deutschland selbst nur von Wenigen ganz begriffen wurde. Die ersehnte Wiederaufrichtung des deutschen Reichs war durch den raschen Verlauf des Krieges vereitelt worden. Um so lei- denschaftlicher hielten die enttäuschten Patrioten an den Hoffnungen fest, deren Erfüllung man auch unter dem Deutschen Bunde noch als möglich ansah; und von diesen erschien keine so billig, so bescheiden wie das Ver- langen nach Einheit des nationalen Rechts. Uber die notwendige Be- seitigung des aufgedrungenen Code Napoleon waren Regierungen und Regierte in jenem Augenblicke einig. Sollte man nun statt der franzö- sischen Gesetzbücher das alte gemeine Recht wieder einführen, jenes Recht der römischen Juristen, das die teutonischen Eiferer als den Todfeind germanischer Gemeinfreiheit betrachteten? und dazu jenen Wust von Lokal- rechten, dessen buntscheckige Mannigfaltigkeit den Patrioten wie den Phi- losophen gleich anstößig war? Die Stunde schien gekommen, durch ein nationales Gesetzbuch das fremdländische Wesen und den Partikularis- mus zugleich zu überwinden. Waren doch die großen Grundgedanken des