Hessen-Darmstadt. 379 wer über die Darmstädter Grenze zur Stadt hinausgeschoben wurde, zog nach einem kurzen Spaziergang durch Homburg oder Nassau fröhlich zu einem anderen Tore wieder ein. Im Odenwald lag gar ein badisch- hessisches Kondominat, dessen Grenzen sich immer von neuem veränderten sobald ein Bauer eine Parzelle verkaufte. Und diese Zierden der deutschen Landkarte waren nicht wie die ebenso zerhackten Gebietstrümmer Thü- ringens ein Vermächtnis des heiligen Reichs, sondern ein Werk der aller- neuesten deutschen Politik. In den zwei Jahrhunderten seit ihrer Trennung von dem Hauptzweige hatte die jüngere Linie des hessischen Hauses ihren Besitzstand sehr häufig verändert. Die Darmstädter Landgrafen geboten anfangs nur über die obere Grafschaft Katzenellenbogen am Odenwalde und einige Striche der Wetterau. Nach deutschem Fürstenbrauche bewiesen sie ihre Selbständigkeit durch beständige Händel mit den Stammesvettern und hielten als glau- bensstarke Lutheraner immer zu Osterreich, während Kassel sich dem reformierten Bekenntnis näherte und mit Schweden, nachher mit Preußen verbündet war; der reformierten Marburger Hochschule trat das lutherische Gießen entgegen. Nachher wurde die Grafschaft Hanau-Lichtenberg er- worben, und bereits begann sich der Schwerpunkt des Territoriums nach dem linken Rheinufer hinüberzuschieben: der Hof wohnte mit Vorliebe in dem schönen Schlosse von Buchsweiler und schuf sich in Pirmasens ein süddeutsches Potsdam für seine weltberühmte Riesengarde. Selbst die Freundin Friedrichs des Großen, „die große Landgräfin“ Karoline Henriette, vermochte die geistlose Langeweile aus diesem Lande der Sol- datenspielerei nicht zu verbannen; auch der Minister Karl Friedrich von Moser mußte aus seiner schimpflichen Entlassung lernen, daß hier kein Raum war für einen Feuergeist, der „den Deutschen die Hundedemut ab- gewöhnen wollte“. Nur durch Merck und seinen Freundeskreis unterhielt das stille Darmstadt einigen Verkehr mit der neuen deutschen Bildung. Während der Revolutionskriege gingen die überrheinischen Besitzungen wieder verloren, und die Dynastie empfing zur Entschädigung unter an- derem das weit entlegene Herzogtum Westfalen. Nach Napoleons Sturz wurde auch diese unnatürliche Erwerbung wieder aufgegeben und dafür der schmale linksrheinische Ufersaum von Worms bis Bingen ein- getauscht. So erhielt das neue Großherzogtum erst durch die Wiener Verträge, später als die anderen oberdeutschen Staaten, seinen politischen Charakter; die Kämpfe zwischen dem linken und dem rechten Ufer machten fortan seine Geschichte aus. Bis auf einige westfälische Gebietsteile war das ganze Land süd- deutsch, fränkisch; die Grenze zwischen nord= und süddeutscher Sitte lief seit alten Zeiten quer durch das obere Lahntal zwischen Gießen und Marburg. Aber welche Gegensätze innerhalb dieser Bruchstücke des frän- kischen Stammes. Von den beiden rechtsrheinischen Provinzen war Ober-