606 II. 10. Der Umschwung am preußischen Hofe. für sich führen könne, ward wenigstens im Grundsatz aufgegeben. Durch diese Kabinettsordre war mittelbar die Friedenspräsenzstärke der Armee gesetzlich festgestellt) bei dem raschen Wachstum der Bevölkerung eröffnete sich mithin die Aussicht auf ein allmähliches Sinken der Militärlast. Die Reform erwies sich im ganzen als heilsam, da die Landwehr nunmehr ohne eine wesentliche Veränderung ihrer Formation in den Krieg geführt werden konnte. Durchgreifende Entschlüsse verhinderte leider die Rücksicht auf den Staatshaushalt; der gefährlichste Ubelstand des neuen Heerwesens, die Schwäche der Linienarmee, die nur 136,000 Mann betrug, blieb un- verändert. Sparen hieß jetzt die allgemeine Losung; die Staatsschuld sollte sofort geschlossen werden, das Defizit für immer verschwinden. Für dies System ängstlicher knapper Sparsamkeit war Boyens Nach- folger, General von Hake, wohlgeeignet, derselbe, der in Scharnhorsts Tagen schon zweimal auf kurze Zeit die Kriegsverwaltung geleitet hatte, ein fleißiger, gewissenhafter Arbeiter, aber pedantisch, beschränkt, ohne Ideen, ohne Schwung der Seele. Während seiner Amtsführung erlangten die Anschauungen des Zivilbeamtentums wieder, wie in den ersten Jahren Friedrich Wilhelms III., einen ungebührlichen Einfluß auf das Heerwesen. Manche unverkennbare Mißstände wucherten fort weil man jedes Geld- opfer scheute; ein Glück nur, daß der König die Armee unter seine unmittel- bare Obhut nahm und durch persönliches Eingreifen den militärischen Geist wach hielt. Auf den genialen Begründer des Wehrgesetzes folgte ein Mann der gewöhnlichen militärischen Routine; kein Wunder, daß sich die Masse der Unkundigen über die Gründe dieses Wechsels täuschte und den finstersten Gerüchten Glauben schenkte. Erst nach Jahren kam an den Tag, daß General Boyen sich diesmal in der Tat geirrt und einer notwendigen Reform widerstrebt hatte. — Der Rücktritt des Kriegsministers brachte die Kugel ins Rollen, denn natürlich waren die Vorgänge im Ministerrate nicht ohne Einfluß auf Boyens Entschluß gewesen. Hardenberg betrachtete den Sturz des Generals als die erste Niederlage der Opposition.) Mit Ancillons unparteiischem Gutachten bewaffnet, hatte er sogleich die Entlassung der drei Minister bean- tragt, und da der König, noch immer auf eine Versöhnung hoffend, die Ent- scheidung über Humboldt und Beyme hinausschob, so stellte der Staats- kanzler am 28. Dezember förmlich die Kabinettsfrage. Es war die höchste Zeit. Denn Humboldt und Beyme waren inzwischen noch einen Schritt weiter gegangen; sie hatten im Staatsministerium, ohne Vorwissen des Staats- kanzlers, den Beschluß durchgesetzt, daß die sämtlichen Oberpräsidenten sofort nach Berlin berufen werden sollten. Gelang dies, so ließ sich mit Gewißheit vorhersehen, daß die Vorstände der Provinzialverwaltung, ge- führt von dem allezeit unzufriedenen Schön, wieder wie vor 2 Jahren“) *) Hardenbergs Aufzeichnungen, Weihnachten 1819. S. Beilage V. *“) S. o. S. 201.