Die hessische Verfassung. 67 Im Ganzen entsprach das hessische Grundgesetz den Bedürfnissen des Landes. Auch die preußische Regierung erkannte dies an und sprach dem Großherzog und seinem treuen Volke ihren warmen Glückwunsch aus. „Durch diese glückliche Wendung, welche die große Angelegenheit genommen, — schrieb Ancillon — ist das monarchische Princip, das Grundprincip aller deutschen ständischen Verfassungen, recht erhalten worden, indem S. K. Hoheit dieses Staatsgrundgesetz Höchstselbst Ihren Ständen gegeben haben und die Freiheit Ihres souveränen Willens und die hohe Weisheit Ihrer Beschlüsse durch das was sie den Wünschen der Kammern zugestan— den wie durch das was sie denselben vorenthielten gleich bewährt haben.“*) Der Geist der Eintracht, der diesen Landtag beseelte, blieb ungeschwächt bis zum Schlusse der Session, im Sommer 1821; die Honigmonde des constitutionellen Lebens verliefen nirgends so ungetrübt wie in Darm— stadt. Man vereinbarte noch einige wichtige Gesetze über die Ablösung der bäuerlichen Lasten, und seitdem ward die Entlastung des Bodens so eifrig gefördert, daß Hessen früher als alle anderen deutschen Staaten zur vollständigen wirthschaftlichen Befreiung des Landvolkes gelangte. Mit mächtigem Selbstgefühle blickte der Darmstädter von der Höhe seiner modernen Lebensverhältnisse auf die kurhessischen Nachbarn hernieder und meinte: wenn die Welt untergeht, dann wandern wir nach Kurhessen aus, denn dort ist man immer fünfzig Jahre hinter der Zeit zurück. — Dergestalt war in ganz Süddeutschland die constitutionelle Staats— form zur Herrschaft gelangt, und so gewiß diese Wendung der Dinge nothwendig und heilsam war, ebenso gewiß bereitete sie der Einigung der Nation ernste Gefahren. Erst durch Napoleon und die Siege des Rhein— bundes war in den zerstückelten Gebieten des Südens ein Gemeingefühl, ein Bewußtsein oberdeutscher Eigenart, das im achtzehnten Jahrhundert noch geschlummert hatte, erweckt worden. Jetzt verschärfte sich dieser Sonder— geist, seit man anfing die schöne Heimath als das classische Land deutscher Freiheit zu preisen und die großen nationalen Erinnerungen des waffen— starken Nordens zu mißachten. Die Kluft zwischen Nord und Süd ver— breiterte sich während der nächsten Jahre, und erst nach schmerzlichen Enttäuschungen erkannten die Oberdeutschen, daß nur die Einheit Deutsch— lands ihnen die politische Freiheit sichern konnte. — *) Aneillon an Senden, 10. Jan. 1821.