Kanzler und Staatsrath. 69 Gewalt, welche ihm der König einst beim Antritt des Kanzleramtes zu— gestanden, längst selber entkleidet hatte. Schon seit Jahren bestanden das neue Staatsministerium und der Staatsrath, und die Verordnung über die Bildung der letzteren Behörde bestimmte unzweideutig, daß sämmtliche Vorschläge zu neuen oder zur Abänderung von bestehenden Gesetzen durch den Staatsrath an den König gelangen müßten. Ergraut im Genusse der Macht hatte Hardenberg diese Vorschrift freilich nicht lange eingehalten; ihm schien es widersinnig, daß ein absoluter Monarch seinen eigenen Beamten gegenüber an Formen gebunden sein sollte. Während die sech- zehn neuen Gesetze des Jahres 1818 allesammt erst nach Berathung des Staatsraths die königliche Sanktion erhielten, wurden schon im folgenden Jahre von siebenundzwanzig neuen Gesetzen nur sechzehn dem Staats- rathe vorgelegt.“) So gewöhnte sich der Kanzler bereits daran den Staatsrath zu um- gehen, und am wenigsten bei den höchst unpopulären Finanzgesetzen wollte er auf dies kurz angebundene Verfahren verzichten. Seit Humboldt's Sturz hatte sich die Stimmung in den Beamtenkreisen noch mehr ver- bittert. Die Erbsünde der Hauptstädte, die Lust am Skandal trat wieder fast ebenso dreist auf, wie einst vor der Jenaer Schlacht; Jeder schalt und klagte, um so heftiger je höher er stand. Welche ungeheuerlichen Lügen konnte Varnhagen allabendlich schadenfroh in den Modersumpf seines Tagebuchs abladen! Der war nach seiner Abberufung mit einem reichlichen Wartegelde ausgestattet worden, weil man ihn zufrieden stellen und seine scharfe Feder unschädlich machen wollte.*) Oeffentlich wagte er auch nicht gegen die Regierung aufzutreten. Dafür trieb er sich jetzt, als Wirklicher Geheimer Ober-Literat, wie der treffende Witz der Berliner ihn nannte, zischelnd, schleichend, horchend zwischen den hohen Beamten und den Schriftstellern der Residenz umher. Hier erfuhr er aus sicherster Quelle, wie sündlich General Knesebeck, ein Mann von unantastbarer Rechtschaffen- heit, mit den militärischen Geldern umgehe und dabei sich selber nicht vergesse; auch der nicht minder ehrenhafte Rother, der sich soeben in Schle- sien ein Gut gekauft, konnte das Geld natürlich nur frechem Unterschleif verdanken; keinen Tresorschein — hieß es in diesen Kreisen — dürfe man die Nacht über im Hause behalten, denn einer solchen Regierung sei nicht vierundzwanzig Stunden lang zu trauen. Bei diesem Fieber der Tadel- sucht schien es in der That bedenklich, den Gesetzentwurf über die Staats- schulden mit allen den unerfreulichen Geheimnissen, die er aufdeckte, jetzt dem Staatsrathe vorzulegen. Ein leidenschaftlicher Streit um jeden ein- zelnen Posten der Rechnung stand dann unausbleiblich bevor, und dieser *) Nach der Berechnung, welche Herzog Karl von Mecklenburg im Jahre 1827 als Präsident des Staatsraths aufstellte (Denkschrift über den Staatsrath, 8. März 1827). **) Ministerialschreiben an Küster, 7. Aug. 1819.