Die Grundherrschaft im Osten. 101 des gemeinsamen Feldbaus verfolgte und die Kirche für Armenpflege und Unterricht nothdürftig sorgte. Seit aber die Reformation das Armen— und Schulwesen secularisirt und die Landgemeinde sich nach und nach aus einer wirthschaftlichen Genossenschaft in eine politische Gemeinde verwandelt hatte, zeigten sich die zwerghaften Communalgebilde des Nordostens völlig hilflos. Wie konnten sie mit ihren dürftigen Mitteln Wege bauen, Schulen unterhalten und alle die andern Leistungen für das gemeine Wohl aufbringen, welche der erstarkte Staat jetzt von ihnen heischte? Zumal in Altpreußen und Polen, wo das Dorf durchschnittlich kaum zweihundert Köpfe zählte, war von modernen Communalanstalten noch fast gar nichts vorhanden. Einige Beihilfe leistete freilich der Grundherr, dem hier im Osten noch fast überall die Patrimonialgerichtsbarkeit, die niedere Polizei und das Kirchenpatronat zustanden: er war in seinem Gutsbezirke selber der Gemeindevorstand und ernannte den Schulzen für sein Dorf. Dies patriarchalische Verhältniß, das noch im Allgemeinen Landrecht als die normale Dorfverfassung betrachtet wurde, begann sich indeß seit der neuen Agrargesetzgebung gänzlich zu verschieben. Durch die Ablösung der bäuer- lichen Lasten und Dienste wurde das Dorf von dem Rittergutsbesitzer wirthschaftlich unabhängig; die Grundherrschaft war jetzt nur noch ein Privatbesitz, der in einer freien Nachbargemeinde den größten Theil der Communallasten zu tragen und die Rechte der Ortsobrigkeit auszuüben hatte. Wie oft hatte der König seit dem Jahre 1808 ausgesprochen, daß diese Trümmer der altständischen Staatsordnung baldigst fallen müßten. Die Verbindung obrigkeitlicher Rechte mit dem Besitz der Scholle wider- sprach nicht nur den ersten Grundsätzen moderner Rechtsgleichheit; die Grundherrschaft vermochte auch ihren polizeilichen Pflichten nicht mehr zu genügen seit die Fabriken auf das flache Land drangen und die Frei- zügigkeit viele Heimathlose in die Dörfer warf; ohne die Hilfe der Gens- darmerie des Staates hätten sich die Ortsobrigkeiten nicht einmal der Vagabunden erwehren können. Und während der wachsende Verkehr seine Ansprüche an die ländliche Polizei täglich steigerte, ging der Grundherr ganz in den Sorgen seiner eigenen Wirthschaft auf. Wer sich jetzt noch auf dem verschuldeten und verwüsteten väterlichen Gute behaupten wollte, mußte hart arbeiten und die neue Lehre der rationellen Landwirthschaft gründlich kennen. Das alte Sprichwort, daß auf dem Lande Jeder mit einer Handvoll Glück und Verstand auskomme, galt längst nicht mehr; das Rittergut verlangte einen ganzen Mann, zumal seit die Brennerei, Dank der neuen Branntweinsteuer, bei geschicktem Betriebe reichen Ertrag bringen konnte, und mancher Edelmann, der auf den Krämergeist der Städte stolz herabsah, wurde, ohne es zu merken, selber ein eifriger Industrieller. Wo blieb da noch Zeit und Kraft für die Pflichten der Ortsobrigkeit?