372 III. 6. Preußische Zustände nach Hardenberg's Tod. nung ebenso vollständig wie der letzte Hardenbergische Entwurf. Das Wesen deutscher Selbstverwaltung ward gänzlich verkannt; der Kreistag sollte nur berathend und begutachtend, also völlig machtlos neben dem allein handelnden Landrath stehen. Die Zusammensetzung der Kreisstände aber war streng im Sinne Haller's gedacht. Nach dieser privatrechtlichen Staats-Anschauung waren die obrigkeitlichen Befugnisse nicht um des Staates willen verliehen und darum wandelbar je nach den Wandlungen des öffentlichen Lebens, sondern sie galten als habende Freiheiten, als wohlerworbene Rechte, welche wider den Willen ihres Besitzers nicht auf— gehoben werden durften. Marwitz gab dieser Doktrin, die den Staat in lauter Privateigenthumsverhältnisse auflöste, einen drastischen Ausdruck, indem er die Liberalen beschuldigte, nach ihres Nächsten Gut zu begehren und also die zehn Gebote zu verletzen. Darum sollte jetzt auch die alte Kreisstandschaft der Ritterschaft ohne alle Beschränkung wieder aufleben. Jeder Rittergutsbesitzer erhielt eine Virilstimme auf dem Kreistage, jede Stadt des Kreises ebenfalls nur eine Stimme, während die gesammte Bauerschaft sich mit drei Stimmen begnügen mußte; nur in den beiden westlichen Provinzen wurde jedem Amte und jeder Sammtgemeinde eine Stimme zugestanden, und auf den rheinischen Kreistagen sollten, wenn die Zahl der Rittergutsbesitzer nicht ausreichte, auch einige gewählte Ab- geordnete der übrigen Großgrundbesitzer erscheinen. Also ward im Namen des historischen Rechts schweres Unrecht gegen die Städter und die Bauern begangen und der Ritterschaft eine Macht- stellung geschenkt, welche ihr vordem niemals zugestanden hatte. Denn vor dem Jahre 1806 hatte sich die Kreisverwaltung der Landräthe und ihrer adligen Kreisconvente nur über die Rittergüter erstreckt; seitdem erst waren die Städte — bis auf einige der größten, welche besondere Stadtkreise bildeten — und die freien Bauerndörfer in den Kreisverband eingetreten, und ihnen muthete jetzt der Gesetzgeber zu, sich auf den Kreistagen durch die Ueberzahl der ritterschaftlichen Virilstimmen erdrücken zu lassen. Um das Unrecht zu mildern gestattete man ihnen, in Theile zu gehen falls sie sich in ihren Standesinteressen bedroht sähen — eine gefährliche Be- fugniß, die nur selten benutzt werden konnte. An der Spitze des Kreistags stand der Landrath; er blieb Staatsbeamter und zugleich Vertreter des Kreises als einer selbständigen Corporation, da er der kreiseingesessenen Ritterschaft — im Rheinland mindestens den größeren Grundbesitzern des Kreises — angehören mußte und durch den König aus drei vorgeschlagenen Candidaten ernannt wurde. Das Vorschlagsrecht ward, nach der mißver- standenen historischen Rechtsdoktrin, überall dort wo es vormals dem Adel allein zugestanden hatte, also im größten Theile der alten Provinzen, wieder ausschließlich der Ritterschaft zugewiesen; in den übrigen Provinzen wählten die Kreistage. Als diese Entwürfe an die Landtage gelangten, erhob sich sofort eine