Hegel's Rechts- und Geschichtsphilosophie. 719 treibung mit unterlaufen, aus dem Allen sprach ein Ernst der Staats- gesinnung, der den älteren deutschen Philosophen fremd war. Dies Verständniß für das Wesen des Staates ergab sich nothwendig aus Hegel's durchgebildetem historischem Sinne. Ein Denker, der in allem Leben der Welt nur Werden sah, mußte von dem Drange nach geschicht— lichem Verständniß, der die ganze Zeit beherrschte, noch stärker sogar als Schelling ergriffen werden. Er sah, daß die göttliche Vernunft nur ge— brochen in tausend Strahlen dem Sterblichen erkennbar wird, daß die Idee der Menschheit nur in der Gesammtheit der Geschichte sich vollendet. Darum grübelte er nicht, wie so viele Philosophen vor ihm, über die dunklen Räthsel des Anfangs und des Endes der Geschichte; er wollte weder sehn— süchtig zurückblicken nach der verlorenen Unschuld eines goldenen Zeitalters, noch die Welt vertrösten auf ein besseres Jenseits, sondern stellte sich herz— haft auf den Boden der historischen Wirklichkeit und fand in ihr, in der unendlichen Mannigfaltigkeit der menschlichen Gesittung die Entfaltung des göttlichen Gedankens. Hegel's Philosophie der Geschichte war seine größte wissenschaftliche That, fast ebenso erfolgreich wie einst Kant's Pflichtenlehre. Auch sie war, wie alle fruchtbaren Ideen, nicht schlechthin neu, sondern von langer Hand her, schon durch Kant und Herder vor— bereitet. Auch Kant's Abhandlung über den Anfang des Menschengeschlechts entnahm Hegel die Idee des Fortschritts der Menschheit, jedoch er ver— tiefte und belebte sie, indem er nicht ein gradliniges Aufsteigen annahm, sondern, wie Herder, in jedem Volke einen eigenen Gedanken Gottes fand, jeder Zeit ihr eigenes Maß der Sittlichkeit zugestand. In jedem Welt— alter erkannte er ein führendes Volk, das die Leuchte des Lebens eine Zeit lang trug, um sie dann anderen Händen zu übergeben. Der historische Mensch erschien in dieser Darstellung zugleich unermeßlich groß als Träger der Idee und verschwindend klein neben den weltbauenden Gesetzen der göttlichen Vernunft. Wohl trat die construirende Willkür des Philosophen auch hier überall zu Tage. Er hegte, obwohl er von der Vernünftigkeit des Wirklichen sprach, wenig Ehrfurcht vor den Thatsachen und rückte sich das Geschehene, oft nur der heiligen Dreizahl zu Liebe, gewaltsam zurecht. Eine Geschichts— philosophie, die ihre Blicke immer nur auf die Zukunft gerichtet hielt, mußte zu weitsichtig werden; sie gab stets dem Sieger Recht und hatte kein Herz für das Heldenthum der Unterliegenden, für das heilige Pflicht— gefühl, das einen Hannibal, einen Demosthenes trieb, ein versinkendes Volksthum zu retten; sie verstand nicht die hohe Tragik der welthistorischen Kämpfe. Befangen in ihrem glücklichen Optimismus fand sie vollends keine Antwort auf die schwere Gewissensfrage: warum der einzelne Mensch bei dem ewigen Fortschreiten seines Geschlechts so schwach und sündhaft bleibt wie er immer war? Gleichwohl blieb aus einer Fülle von Irr— thümern ein unvergänglicher Gewinn zurück. Hegel zuerst erkannte mit