726 III. 10. Preußen und die orientalische Frage. Jahrzehnten gesetzlich geordnet war, und selbst den Großfürsten Nikolaus, dem nunmehr die Krone gebührte, nicht unterrichtet. Verwundert sah nun die Welt das unerhörte Schauspiel, wie zwei fürstliche Brüder nicht um den Besitz, sondern um die Zurückweisung einer mächtigen Krone mitein— ander rangen. Nikolaus huldigte mit den Truppen der Hauptstadt dem älteren Bruder, der fern in Warschau weilte; drei Wochen lang blieb das ungeheure Reich ohne anerkannten Herrscher. Da erst, auf Constantin's wiederholten Befehl, entschloß sich Nikolaus, die Krone zu übernehmen, aber der neue Thronwechsel bewog jene Verschworenen, deren Anschläge der sterbende Alexander noch erfahren hatte, vor der Zeit loszubrechen. Der lange Aufenthalt des russischen Heeres in Frankreich trug jetzt seine Früchte. Oberst Pestel und viele andere der begabtesten und vornehmsten Officiere von der Garde waren einig in dem tollen Gedanken, diesem Reiche eine republikanische Verfassung aufzuerlegen — durch meuterische Soldaten, die in einem Athem das Väterchen Constantin und seine Frau, die Constitution hoch leben ließen. Der Straßenaufruhr in Petersburg ward niedergeworfen, die Verschworenen in den Südprovinzen, noch ehe sie los— schlagen konnten, verhaftet. Ein furchtbares Strafgericht erging über die unglücklichen Dekabristen. So über Leichen hinweg stieg Czar Nikolaus auf den Thron, der härteste Selbstherrscher des Jahrhunderts, ein Mann ohne Nerven, streng, nüchtern, ausdauernd, pflichtgetreu, willensstark, ein beschränkter Kopf, der gerade durch seine Gedankenarmuth, durch die zweifellose Bestimmtheit seiner dürftigen Begriffe in einer Zeit der Gährung und des Zweifels sicher, furchtbar, groß erschien. Für das Heer erzogen, hatte der junge Großfürst von seinem kaiserlichen Bruder, der ihn wie einen Sohn bevor- mundete, nicht die Erlaubniß zur Theilnahme an den Befreiungskriegen erlangen und darum auch nicht durch den Augenschein lernen können, wie schwach in der That die Streitkräfte waren, welche das gefürchtete Ruß- land nach Westeuropa sendete. Erst nach dem Frieden bereiste er die Schlachtfelder und folgte im Geiste dem Siegesfluge des Doppeladlers von der Moskwa bis zur Seine; urtheilslos glaubte er Alles, was ihm unter- thänige Begleiter von den Wundern moskowitischer Tapferkeit erzählten, und kehrte heim mit der festen Ueberzeugung, daß Rußland allein die Welt befreit habe. Unbegrenzt erschien ihm jetzt die Gewalt des weißen Czaren. Die überspannten Vorstellungen von Rußlands Macht, welche er überall an den Höfen des Westens verbreitet fand, mußten ihn in solcher Ansicht bestärken; und wenn er nachher durch ein Menschenalter im Besitze dieser göttergleichen Macht schwelgen konnte, ohne dem Wahn- sinn der Cäsaren zu verfallen, so verdankte er dies Glück lediglich seinem stählernen Körper und der schwunglosen Mittelmäßigkeit seines Geistes. Härter ward er wohl mit den Jahren, doch das Gleichgewicht der Seele verlor er niemals. Nach der Heimkehr lebte er ganz seinem militärischen