738 III. 10. Preußen und die orientalische Frage. den Russen zuvorkam und die Donaufürstenthümer rasch besetzte, so mußte Rußland mit ihr wohl oder übel sich verständigen und dem Donaureiche ward sein natürliches Machtgebiet bis zur Mündung seines Stromes ge— sichert, denn noch war das rumänische Nationalgefühl nicht erwacht, noch war es möglich, alle Rumänier in Ungarn, Siebenbürgen, der Moldan und der Wallachei mittelbar oder unmittelbar unter dem österreichischen Scepter zu vereinigen. Czar Nikolaus fürchtete in der That solche Ver— suche; er gab seinem Oberfeldherrn Wittgenstein die Weisung, sich mit den Waffen den Weg zu bahnen, falls die Oesterreicher in den Donau— fürstenthümern sich dem Marsche der Russen widersetzen sollten. Aber die unwiederbringliche große Stunde verging unbenutzt. Der elende Zustand des österreichischen Heeres verbot einen raschen Vorstoß, und Metternich hatte sich in die Doktrin von der Unantastbarkeit der Türkei längst so tief eingelebt, daß er die Interessen seines Staates im Oriente nicht mehr unbefangen wahren konnte. Er vergeudete die kostbare Zeit mit müßigen diplomatischen Verhandlungen, empfahl in London und Paris dringend die Aufrechterhaltung des Londoner Vertrags, den er vor Kurzem noch für dümmer als dumm erklärt hatte. Im December hatte er noch geprahlt: könnte ich nur wenige Tage in Konstantinopel weilen, „so würde ich den Rummel bald beendigen“; jetzt verlor er auch bei der Pforte jedes An— sehen, da keine seiner Vorhersagungen eingetroffen war, und sein Gentz jammerte: der Autokrat wird am Bosporus thronen! Unbelästigt von Oesterreich überschwemmte das russische Heer die Donaufürstenthümer. Dann aber zeigte sich, wie unmäßig die Welt die Angriffskraft Rußlands überschätzt hatte. Nach langjährigen Vorberei— tungen konnte der Czar den Krieg erst sehr spät, erst im Juni beginnen und nur mit etwa 100,000 Mann. Auch der Heldenmuth der griechischen Rebellen erschien jetzt erst in seinem vollen Glanze. Dies türkische Heer, das die verachteten hellenischen Klephten niemals hatte ganz bezwingen können, hielt den Russen Stand — nur zwei Jahre nach seiner Neubil- dung, nach der Vernichtung der Janitscharen — und vertheidigte die Bal- kanfestungen mit einem Löwenmuthe, der an die großen Tage Suleiman's erinnerte. Die Russen errangen, trotz oder wegen der Anwesenheit des Czaren, keinen erheblichen Vortheil; nur Varna wurde erobert, und in Kleinasien drang Feldmarschall Paskiewitsch vom Kaukasus her siegreich vor. Ein zweiter Feldzug ward unvermeidlich, und er versprach sicheren Erfolg; denn das gelichtete russische Heer erhielt beträchtliche Verstärkungen, und Czar Nikolaus sah ein, daß er kein Feldherr war, er legte den Ober- befehl in die kräftigen Hände des Preußen Diebitsch. Um so bedrohlicher gestaltete sich die diplomatische Lage. Metternich hatte nach den geringen Erfolgen der Russen frischen Muth geschöpft und bemühte sich, einen Bund aller vier Großmächte gegen Rußland zu Stande zu bringen. Preußen und Frankreich verweigerten ihren Beitritt,