Charakter des neuen Zeitalters. 5 hinaus. Die Wahlen und die Redeschlachten der Parlamente, die Bera- tungen der Vereine, die großen neuen wirtschaftlichen Unternehmungen nehmen die Kraft des Mannes in Anspruch, im Kaffeehaus und bei der Zigarre sucht er seine Erholung. Der häusliche Verkehr verödet, die Frauen behaupten nicht mehr die unbestrittene Herrschaft im geselligen Leben und versuchen dafür schon zuweilen mit der Männerarbeit den ungleichen Wett- kampf aufzunehmen. Die Zeitungen und die rasch ins Kraut schießende populäre Literatur wecken in weiten Kreisen den Sinn für das öffentliche Leben, aber auch eine begehrliche, glaubenlose, dünkelhafte Halbbildung; manches schöne Talent verflüchtigt sich in Eintagswerken, nur wenige starke Geister vermögen noch sich herauszuretten aus der unmutigen Hast der Zeit, in Kunst und Forschung Dauerndes zu schaffen. Der demokratische Charakter der Epoche spiegelt sich treulich wieder in ihrer Männerkleidung, der häßlichsten, aber auch der zweckmäßigsten und be- quemsten, welche je in Europa getragen wurde. Haar= und Barttracht bleiben dem persönlichen Belieben überlassen, im übrigen herrscht unver- brüchlich das demokratische Anstandsgesetz, das keinem erlaubt, sich von den anderen zu unterscheiden; jedermann trägt den nämlichen schmutz- und mischfarbigen, taschenreichen Sackrock, der dem beschäftigten Manne so viel Zeit erspart; das lange Beinkleid und die Stiefel dringen jetzt bis in den Salon, der demokratische Frack läßt auch hier alle, Gäste und Diener, vollkommen gleich erscheinen. Das verarmte Deutschland vermochte dem Umschwunge des Verkehres und der Lebensgewohnheiten nur langsam zu folgen. Um so mächtiger strömten die politischen Gedanken der Franzosen in unser Leben ein, war ihnen doch längst der Boden bereitet durch die radikale Literatur der zwanziger Jahre. Unabhängig von den Franzosen, zumeist im Kampfe mit ihnen hatte der deutsche Genius in den Jahren der klassischen Dichtung, in den Befreiungskriegen, in den schönen Jugendtagen der historischen Wissen- schaft sich in Wort und Tat seine Wege gefunden. Nun erfolgte ein ungeheurer Rückschritt; die alte Aufklärung, die seit Herders Zeiten über- wunden schien, kam wieder empor, und sie trug französische Gewänder. Jene tiefsinnige historische Anschauung vom Staate, die sich in der deutschen Wissenschaft still vorbereitet, aber noch nicht durchgebildet hatte, trat in den Hintergrund. Die alte Naturrechtslehre von dem vernunftgemäßen Staate der Gleichheit, von der Unfehlbarkeit der öffentlichen Meinung, von der Staatsgewalt, die nicht regieren, sondern der Mehrheit dienen sollte, führte das große Wort und verfiel bald in leere Phrasen, da sie nichts Neues mehr zu sagen wußte. Die vaterländische Begeisterung der Befreiungs- kriege ward verdrängt durch einen liberalen Weltbürgersinn, der im Namen der Freiheit die Feinde Deutschlands im Osten wie im Westen verherr- lichte und das eigene Volk mit Schimpf überhäufte. Auf das geistvolle Kunstverständnis der Romantiker folgte wieder ein flacher, mit Freiheits-