56 IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede. dauer des Vierbundes glaubte. Aber er ließ zugleich dem Zaren vor- halten, daß dieser schwere Krieg die öffentliche Meinung der Deutschen entschieden gegen sich habe, vielleicht sogar Aufstände in Deutschland und Polen hervorrufen würde. Auf die alte Freudigkeit der Preußen sei nur zu rechnen, wenn das Volk wisse, daß man alle friedlichen Mittel erschöpft habe. Darum verlangte er eine genaue, unzweideutige Verabredung: wann der Kriegsfall gegeben sei? Es war die Sprache des ruhigen Verstandes; aber wie konnte sie den blinden Haß überzeugen? Hier der prahlerische Hochmut des Selbst- herrschers, dort die freche Begehrlichkeit der Revolution, hüben und drüben die wachsende Wucht der Rüstungen — wer konnte diesen Mächten des Verderbens noch Einhalt gebieten auf ihrer abschüssigen Bahn? Gegen Ende Novembers war die Luft mit Zündstoff überladen; mit der einzigen Ausnahme des allezeit hoffnungsvollen Gentz glaubten gerade die ein- sichtigsten und bestunterrichteten Staatsmänner allesamt, daß der Welt- friede nur noch an einem Faden hänge. — Da trat ein Ereignis ein, das die Leidenschaften der Parteien über- all in Europa von neuem aufstachelte und doch zugleich der Erhaltung des Friedens zu statten kam. Die in aller Welt verbreiteten überspannten Vorstellungen von Rußlands kriegerischer Macht hatten schon durch die Erfahrungen des Türkenkrieges einen ersten Stoß erlitten; sie schwächten sich noch mehr ab, seit in Europa etwas ruchbar ward von den Ver- heerungen der asiatischen Cholera. Die furchtbare Seuche, die erst im Jahre 1817 in ihrem uralten Heimatlande Ostindien von englischen Arzten beobachtet worden war, drang seit dem Sommer 1829, zumeist den Wasserläufen folgend, im Innern Rußlands unaufhaltsam vor. Da die Heilkunde noch ratlos vor der geheimnisvollen Krankheit stand, so griff der Staat zu den härtesten Vorsichtsmaßregeln: ganze Provinzen wurden abgesperrt, alle Briefe durchstochen, die Reisenden durchräuchert und in Quarantäne gehalten; aber die Roheit des Volks und die Un- zuverlässigkeit der Beamten brach allen Vorschriften die Spitze ab. Im September 1830 kam die Cholera nach Moskau; der Pöbel wütete gegen die Polen und die anderen Fremden, die den Giftstoff eingeschleppt haben sollten; nur das persönliche Eingreifen des furchtlosen Zaren stellte die Ruhe wieder her. In manchen Teilen des ungeheuren Reiches war alle bürgerliche Ordnung so aufgelöst, wie einst in Westeuropa, als der schwarze Tod durch die Lande raste. Freund und Feind begannen schon zu ahnen, ein also heimgesuchter Staat werde schwerlich ein großes Heer über seine Grenzen hinaussenden können. Und diese Vermutung ward zur Gewißheit, als am 29. November plötzlich der Aufruhr in Warschau ausbrach.