Rußland und Polen. 57 Auch Polen erlebte seine große Woche. Nach wenigen Tagen war der letzte Russe aus den Landen des weißen Adlers vertrieben, und der Zar durch einen furchtbaren Feind vom Westen abgetrennt. Wieder wie in den Niederlanden brach eine der willkürlichen Staatsbildungen der Wiener Verträge plötzlich zusammen; hier lag die Schuld jedoch mehr an den Menschen, als an den künstlichen Institutionen. Der wohlge- meinte Versuch Kaiser Aleganders, die Unabhängigkeit Polens unter russischem Schutze teilweise wiederherzustellen, scheiterte an der unheil- baren Zuchtlosigkeit des polnischen Adels. Seit fünfzehn Jahren besaß das Königreich sein eigenes, durch die napoleonischen Veteranen wohl ge- schultes Heer und eine nationale Verwaltung, die fast ebenso wohltätig wirkte wie einst die preußische: sie brachte den Staatshaushalt in treff- liche Ordnung, gründete eine Universität, eine Bank, eine Pfandbriefs- Anstalt, ein gutes Postwesen, einige Kunststraßen und Kanäle. Das schwerste Leiden des Landes, die Rechtlosigkeit der mißhandelten Bauern, erschien dem Adel, der hier allein das Wort führte, keineswegs als ein Übel. Wohl unterlag die Presse einer harten Zensur, doch erst seit sie ihre Freiheit maßlos mißbraucht hatte; auch die Offentlichkeit der Reichs- tagsverhandlungen wurde beseitigt, doch erst seit das Geschrei der radikalen Jugend auf den Galerien die Beratungen fast unmöglich machte. Im übrigen bestand die Verfassung unangetastet; unter den rohen Wut- ausbrüchen des Statthalters Großfürsten Konstantin litten nur einzelne, meist Offiziere, da der Statthalter lediglich militärische Befugnisse besaß. Wie ungern immerhin der herrische Nikolaus die Erbschaft seines völkerbeglückenden Bruders antreten mochte: er beschwor die Verfassung, und den Buchstaben des Rechts zu verletzen, war seine Weise nicht. Zwar verschob er anfangs die Berufung des Reichstags über die gesetzliche Frist hinaus — was sich durch die Kriege und die inneren Wirren seiner ersten Regierungsjahre zur Not entschuldigen ließ — aber im Frühjahr 1830 kam er selbst nach Warschau, um den Reichstag zu eröffnen. „Es hängt von euch selber ab,“ rief er der Versammlung zu, „das Werk des Wiederherstellers eures Vaterlandes zu befestigen, indem ihr die Befugnisse und Vorrechte, welche er euch auferlegt hat, mit Weisheit und Mäßigung gebraucht.“ Mit schauspielerischem Geschick zeigte er sich in Warschau nur als König von Polen und versäumte keine Gelegenheit, den nationalen Erinnerungen seine Huldigungen zu erweisen; er errichtete ein Denkmal für den Volkshelden Sobieski, als seinen Vorgänger auf dem Throne, verteilte reiche Geschenke, gab glänzende Feste, denen auch einige der jungen preußischen Prinzen beiwohnten, und mit der Geduld eines konstitutionellen Fürsten ertrug er schweigend die Ausfälle der ra- dikalen Mehrheit der Landboten. Als der Reichstag nach stürmischer Tagung wieder nur ein einziges, unerhebliches Gesetz zu stande brachte, sprach Nikolaus kalt und hochmütig sein Bedauern aus: „auch in der