Niebuhrs letzte Tage. 201 er schmerzlich, „daß die schönen Eigenschaften schwinden, welche die Zierde unserer Nation machten, Tiefe, Innigkeit, Eigentümlichkeit, Herz und Liebe, daß Flachheit und Frechheit herrschend werden.“ Als nun der Thron der Bourbonen stürzte, da glaubte er wie Goethe die all- gemeine Anarchie einbrechen zu sehen; weitsichtig wie jener ahnte er schon die Stürme des Jahres 1848. Diese Erlebnisse erschütterten ihn so tief, daß er um ihretwillen von zweien seiner wärmsten Freunde, Stein und Dahlmann, sich zurückzog; von jenem, weil er die Erwählung des Bürger- königs doch politisch entschuldbarer fand, als der strenge Reichsfreiherr zugeben wollte; von diesem, weil der jüngere Freund so gar hoffnungsvoll sagte: „ich freue mich zu erleben, was ich lieber schon vor zehn Jahren erlebt hätte.“ In der Vorrede zu dem neuen Bande der römischen Geschichte sprach Niebuhr seine hoffnungslose Ansicht von der Zukunft offen aus, und gestand einem Freunde: „In einem Buche, welches, wenn es nun auf mehrere Menschenalter in der hereinbrechenden Barbarei vergessen wird, doch einmal wieder hervorkommen muß, glaubte ich eine Erklärung niederlegen zu können, wie unsere Vorfahren einen Bericht von der Gegen- wart in Grundsteinen oder in der Kugel eines Kirchturms niederlegten.“7) Noch strenger lauteten seine letzten Worte: das Vorwort zur ersten philip- pischen Rede, derselben, die er einst in den bangen Tagen vor Austerlitz für Kaiser Alexander übersetzt hatte und jetzt wieder herausgab, um die Deutschen vor den alten Sünden der Zwietracht und des Preußenhasses zu war- nen: „Allenthalben,“ so schrieb er, „lachte der Neid, daß Athen Schmach und Unglück leide; im schlimmsten Fall hofften sie die letzten zu sein, welche der Kyklop verschlinge: und sollte man ihm nicht entwischen können? sollte er nicht gütig werden? könnte er nicht auch sterben, ehe es so weit komme? Endlich erwachten viele mit Entsetzen aus dem Traum. Die Geschichte beklagt auch sie, die neben den Atheniensern bei Chäronea fielen. Aber ihre Schuld ist nicht gehoben: durch sie ist Griechenland untergegangen, das Deutschland des Altertums.“ Unter so finsteren Träumen starb Niebuhr zu Neujahr 1831 — er, „dessen Dasein allein schon bewies,“ wie Dahlmann sagte, „daß die Menschheit von höheren Gewalten nicht aufgegeben ist.“ Wie wunderbar schnell war dies reiche Leben verrauscht; nur vierundfünfzig Jahre, und ein solcher Schatz von Wissen und Gedanken, wie ihn kaum Greise er- werben. Und nun zerrissen die Saiten plötzlich mit einem schrillen Miß- tone. Geh. Rat Ferber, der fleißige Statistiker, versuchte sogleich in einer eigenen Schrift, Niebuhrs letzte Ansichten pathologisch zu erklären und gab den Philistern die tröstliche Versicherung, im Jahre 89 sei die Entsittlichung vorherrschend gewesen, im Jahre 30 die Sittlichkeit. Tiefer- blickende erkannten in dem Schmerze, der Niebuhrs Ende verdüsterte, *) Niebuhr an Bunsen, Dez. 1830.