Das revolutionäre Philistertum. 265 Maifest der Deutschen große Hoffnungen gesetzt. Am Tage des Ham— bacher Festes veranstalteten die deutschen Radikalen in Paris ein Bankett unter Lafayettes Vorsitz und einige Tage nachher brach dort ein gefähr— licher Aufstand aus. Auch in den anderen Landschaften am Ober- und Mittelrhein wurden zur selben Zeit überall, offenbar nach Verabredung, Volksversammlungen abgehalten; der Frühling war so schön, der Verkehr so leicht, der Wein so wohlfeil und das deutsche Elend unbestreitbar schwer. In Weinheim an der Bergstraße, in Bergen und Wilhelmsbad bei Frankfurt, in der Nebelhöhle der Rauhen Alb versammelten sich die Patrioten, mit schwarz- rotgoldenen Kokarden geschmückt; da und dort genügte schon die Ein- ladung eines unternehmenden Gastwirts, um das souveräne Volk anzu- locken. Am 11. Juni tagten die badischen Liberalen in Badenweiler, und hier zeigte sich deutlich, wie scharfe Gegensätze die süddeutsche Opposition in sich barg. Den Gedanken der unbedingten nationalen Einheit vermochte Rotteck nicht zu fassen. Als ein Student das deutsche Banner aufpflanzen wollte, ließ er die Fahne hinwegnehmen und brachte einen Trinkspruch auf Badens Selbständigkeit aus: „Ich will keine Einheit, die uns in Gefahr setzt, in einen Kriegszug gegen die uns natürlich Verbündeten geschleppt zu werden; ich will keine Einheit unter den Flügeln des öster- reichischen oder des preußischen Adlers, sondern die Einheit der Völker Deutschlands zum Schutze gegen die Vereinigung der Fürsten und der Aristokraten.“ Unter brausendem Beifall faßte er seine Weisheit endlich in dem Satze zusammen: „Ich will lieber Freiheit ohne Einheit, als Einheit ohne Freiheit“ — einem Satze, der seitdem oft wiederholt, durch lange Jahre das Stichwort des liberalen Partikularismus geblieben ist. Seit diesen Hambacher Tagen gewöhnte sich das süddeutsche Bürger- tum an eine patriotische Kneipseligkeit, die, zuweilen einmal durch ein Verbot der Obrigkeit gestört, fast zwei Jahrzehnte lang anhielt und auf das Volksgemüt ebenso unwiderstehlich wirkte wie ein halbes Jahrtausend zuvor der Kyrieleis-Ruf der Geißler. Beim vollen Becher das Kauder- welsch der Zeitungen nachzusprechen oder bei einem „Welckers-Essen“ den großen deutschen Hofrat reden zu hören, das gehörte zum Leben des süddeutschen Bürgers; der Idealismus, aber auch die Zuchtlosigkeit des Jahres 1848 hat sich gutenteils in dem beständigen Rausche dieser Zweckessen angesammelt. Niemand kannte dies revolutionäre Philistertum besser als der liebenswürdige Heidelberger Dialektdichter K. G. Nadler, selber ein fröhlicher Pfälzer in allem, nur nicht in seiner politischen Ge- sinnung. Er wollte sich kein Herz fassen zu den beharrlichen weingrünen Hochs auf Deutschland — solange unsere Fahne noch nicht in Straß- burg wehe, unsere Kriegsflotte noch nicht nach Kronstadt gehe — und ließ den gesinnungstüchtigsten aller liberalen Schoppenstecher, den Bürger- grenadierkapitän und Schuhmachermeister Hackstrumpf also reden: