Heines Französische Zustände. 295 alles freilich unter der stillschweigenden Voraussetzung, daß zuvor Preußen zerschlagen und das linke Rheinufer an Frankreich abgetreten würde. Die „deplorablen“ Sechs Artikel erklärte er „feierlichst für null und nichtig“; das sittliche Pathos stand ihm aber so schlecht zu Gesicht, daß die Leser zweifeln mußten, ob hier der Schalksnarr oder der Volkstribun rede. Um so lebendiger erklangen seine rohen Schimpfreden wider den preußischen Esel, der im Befreiungskriege dem sterbenden Löwen den letzten Fußtritt gegeben habe. Das war unverkennbar die Sprache des Herzens. Heines alter Haß gegen Preußen hatte sich in der Pariser Luft bis zur blöden Wut gesteigert, denn er ahnte insgeheim, daß die begehrlichen Träume seiner Franzosen keinen ärgeren Feind zu fürchten hatten, als den preußischen Degen. Darum wurden alle die Männer, die in den letzten Jahren ihre preußische Staatsgesinnung offen bekundet hatten, mit Kot beworfen: Hegel, Arndt, Schleiermacher, Stägemann, auch „der arme Ranke, ein hübsches Talent, gemütlich wie Hammelfleisch mit Teltower Rübchen“; ihnen allesamt schleuderte Heine den Vorwurf der Feilheit zu, da er andere nur nach seinem eigenen Charakter zu beurteilen ver- mochte. Den langfingerigen Hohenzollern weissagte er mit der Seher- kraft des Dichters statt der ersehnten Krone Karls des Großen vielmehr das Schicksal Karls X. von Frankreich oder Karls von Braunschweig, und über einen deutsch-französischen Krieg urteilte er also: „Sollte sich das Entsetzliche begeben, und Frankreich, das Mutterland der Zivilisation und der Freiheit, ginge verloren durch Leichtsinn und Verrat, und die potsdämische Junkersprache schnarrte wieder durch die Straßen von Paris, und schmutzige Teutonenstiefel befleckten wieder den heiligen Boden der Boulevards, und das Palais Royal röche wieder nach Juchten — dann würden alle Flüche der Menschheit den Urheber solchen Verderbens treffen.“ Die Vorrede dieses Buchs, die sich durch ihren pöbelhaften Ton be- sonders auszeichnete, wurde in zahlreichen Sonderabdrücken in der Mainzer Gegend verbreitet, um die Rheinhessen gegen Preußen aufzuwiegeln, und fand auch viele bewundernde Leser; das internationale Judentum zog ja offenbar die letzten unabweisbaren Folgerungen aus jener Lehre Rottecks, welche die europäische Welt in die beiden Völker der Freisinnigen und der Knechtisch- gesinnten einteilte. Weltbürgerliche Träume, phantastische Hoffnungen auf eine allgemeine Revolution, auf die Verbrüderung aller freien Völker ver- fälschten und verdunkelten das Idealbild der nationalen Einheit. Auch die deutsche Demokratie wurde jetzt hineingezogen in das Netz revolutionärer Geheimbünde, das die romanischen Länder längst überspannte. Während der zwanziger Jahre hatten nur vereinzelte deutsche Radikale mit Lafayettes geheimnisvollem Comité directeur ihre Gedanken ausgetauscht; nun erst ward dieser Verkehr lebhafter, seit die polnischen Flüchtlinge ihm als natür- liche Vermittler dienen. General Bem in Dresden unterhielt einen geheimen Briefwechsel mit Cornelius, Siebenpfeiffer und anderen Radikalen des