Der alte Goethe. 409 lautete, sittlicher und tiefsinniger als das mönchische Memento mori, der Weisheit letzter Spruch im Wilhelm Meister. Bis zum letzten Atem— zuge blieb der Dichter seinem Worte treu, ein heiter Entsagender, dank— bar für jede Blume des Sommers und jede Frucht des Herbstes, beruhigt in dem Glauben, daß Verdruß auch ein Teil des Lebens und das höchste Glück auf Erden, die Freuden des Gemüts, der ganzen Welt gemein seien. Als einen gebührenden Zoll nahm er die Huldigungen entgegen, die ihm Walter Scott mit den schottischen Dichtern und so viele andere Aus— länder darbrachten. Er sah, daß Deutschland jetzt an der Spitze der Weltliteratur stand, und sagte den Fremden aufrichtig: „wer die deutsche Sprache versteht, spielt den Dolmetscher, indem er sich selbst bereichert.“ Mit diesem ruhigen Selbstgefühle paarte sich eine wunderbare, allen Neid entwaffnende Demut; fast siebzig Jahre war er alt, als er beim Anblick einer Ausgabe seiner Werke die Verse schrieb: Seh' ich die Werke der Meister an, So seh' ich das, was sie getan. Betracht' ich meine Siebensachen, Seh' ich, was ich hätt' sollen machen. Wie tat es ihm wohl, als er in dem jungen Schotten Thomas Carlhle, dem Übersetzer und Kritiker der deutschen klassischen Literatur, den ersten Ausländer kennen lernte, der auf der Höhe des deutschen Denkens stand. „Ganze Generationen werden Sie dereinst dafür segnen, daß sie statt des Vermutens und Leugnens wieder zu glauben und zu wissen gelernt haben“ — so sagte Carlyle, die Orthodoxen und die liberalen Partei— fanatiker zugleich beschämend. Goethe ahnte, was Deutschland an diesem seinem wärmsten und ireuesten Freunde draußen besaß; er wurde nicht müde, dem jugendlichen Verehrer in die Einsamkeit der schottischen Berge bald seine neuesten Werke, bald eine Medaille für die Genossen drüben, bald ein Armband oder eine feine schmiedeeiserne Halskette oder ein anderes einfaches deutsches Geschenk für die junge Frau zu senden. „Und so fortan. Goethe“ — damit schloß er in der Regel seine patriarchalischen Briefe. Von jeher hatte er das Wesen der Schönheit darin gesucht, daß wir „beim Anschauen des gesetzmäßig Lebendigen uns gleichfalls lebendig und in größte Tätigkeit versetzt fühlen“. Alles Empfangen reizte ihn sogleich zum Schaffen, und jetzt, da er in der stillen Sammlung des hohen Alters jede Zerstreuung abweisen durfte, war sein ganzes Leben nur noch un— ausgesetzte beglückende Arbeit. Mochte er dichten und denken oder der ge— liebten Stimme der „großen, leise sprechenden Natur“ lauschen, oder an den neuen Werken der Kunst und Forschung, die ihm von allen Enden der Welt zuströmten, sich liebevoll erfreuen, immer schritt er aufwärts, immer baute er fort an dem umfassenden Weltenbilde, das leuchtend vor seiner Seele stand, mit den Jahren stets freier, heller, größer sich ge— staltete, und noch am Rande des Grabes gingen ihm „bisher undenkbare