416 IV. 7. Das Junge Deutschland. schauungen, der hier floß, zu zeigen. Je mehr die nervöse Erregung der Zeit sich beruhigte, um so dichter ward der Kreis der Andächtigen, die, ohne nach den klügelnden Ausdeutungen so mancher krausen Allegorien viel zu fragen, schlichtweg als Schauende an den Faust herantraten und bei jedem neuen Lesen immer neue Seiten der Dichtung entdeckten, immer klarer erkannten, wie fest die beiden Teile, trotz der Verschiedenheit des Stiles und des Kunstwertes unter sich zusammenhingen. Was man auch mäkeln und ergrübeln mochte, der Faust blieb die Tragödie des neuen Jahrhunderts, wie Dantes Dichtung das Bekenntnis des ausgehenden Mittelalters, und beide Werke konnten nur im Herzen Europas entstehen, in den beiden Völkern, welche von jeher den Idealismus der christlichen Ge— sittung getragen haben. Wie verschwand doch alles, was andere Dichter von dem unbändigen Erkenntnisdrange der modernen Menschheit gesungen hatten, wie klein und kränklich erschien selbst in Byrons Manfred, der dem Faust noch am nächsten kam, der selbstzerstörerische, gegenstandslose Welt— schmerz neben dem echten Titanenstolze des Goethischen Helden: Es kann die Spur von meinen Erdentagen Nicht in Aonen untergehn. Als das Gedicht allmählich auch über unsere Grenzen hinausdrang, da glaubten manche geistreiche Männer des Auslandes die Empfindungen ihres eigenen Volkes darin wiederzufinden: Turgeniew behauptete dreizehn Jahre nach Goethes Tode, der Faust sei den Russen vielleicht verständlicher als jeder anderen Nation. Deutlicher ließ sich nicht aussprechen, daß der deutschen Dichtung die zentrale Stelle in der modernen Gesittung gebührte. Der hohe menschliche Sinn, der den Fremden so traulich zum Herzen sprach, war doch nichts anderes als die feinste Blüte unserer nationalen Bildung und nur den Landsleuten ganz begreiflich; denn wahrnehmbar wie in keinem anderen Werke Goethes rauschte im Faust der Flügelschlag deutscher Geschichte, und nicht zufällig stand gerade hier die Mahnung des Dichters, daß wir das Erbe unserer Väter erwerben sollen, um es zu besitzen. Gleichzeitig mit dem Faust beendete Goethe den vierten Teil von Dichtung und Wahrheit, die rührende Geschichte der tiefsten Herzensneigung seiner Jugend, und so warm, so zart, so lebendig erzählte der Achtzigjährige noch, daß er wagen durfte, die halbverschollenen alten Lilli-Lieder mit ein- zuflechten; die süßen Töne klangen, als wären sie gestern entstanden. Also hat ihm die Wonne der Frauenliebe noch seine letzten Träume vergoldet; durch ein langes Leben voll starker Mannesarbeit war sie ihm gefolgt, von jenen fernen Tagen an, da der sinnenfrohe Jüngling den Amor besang, der schalkhaft und bescheiden sich fest die beiden Augen zuhält, bis zu der glühenden Abschiedsklage des Greises: War unersättlich nach viel tausend Küssen, Und mußt' mit einem Kuß am Ende scheiden!