Liebig. Wöhler. Joh. Mülller. 481 erfand die Kunst, die Kohlensäure sofort zu wiegen, und entdeckte das Chloroform, dessen Nutzbarkeit erst nach Jahren ganz gewürdigt wurde. Wöhler aber eröffnete einen überraschenden Einblick in die letzten Geheim— nisse der Natur, als er den Harnstoff aus den Elementen, ohne Mit— wirkung der tierischen Lebenskraft, herstellte; damit war ein tausendjähriger Irrtum widerlegt und der Beweis geführt, daß zwischen der organischen und der unorganischen Welt eine feste Schranke nicht besteht. Noch weiter, bis zu jenen Höhen, wo Physik und Metaphysik sich be- rühren, schritt der geniale Physiologe Johannes Müller in seinen Unter— suchungen über den Gesichtssinn (1825): er zeigte durch naturwissenschaft— liche Beobachtung, was Kant auf dem Wege der Spekulation gefunden hatte, daß wir die Dinge nicht sehen, wie sie sind, sondern wie sie uns nach der Beschaffenheit unserer Organe erscheinen müssen. Gleich Liebig hatte sich auch Müller von den anmaßenden Voraussetzungen der Natur— philosophie erst losgerissen; jetzt stand er fest auf dem Boden der exakten Untersuchung, erzog sich in Berlin einen glänzenden Schülerkreis und fand für die vergleichende Anatomie die physiologischen Grundlagen. Wenn neue Gedanken in das deutsche Leben einschlagen, fordert auch immer das Gemüt sein Recht. Eine schöne, herzliche Freundschaft verband die meisten der jungen Berliner Naturforscher: Dove, Mitscherlich, Magnus, die Ge— brüder Rose; wenn sie bei dem Physiker Poggendorff in dem Turmbau der alten Sternwarte auf der Dorotheenstraße zusammensaßen, dann über- kam sie die Ahnung einer großen Zukunft. Die Gegenwart war freilich noch sehr bescheiden; diese werdenden Wissenschaften mußten sich die Gleich- berechtigung erst erkämpfen. Nur die alteingebürgerte Astronomie galt für ein vornehmes Fach; für sie hatte auch der Staat immer offene Hände. Er hatte einst mitten im Elend der napoleonischen Kriegszeiten die Königs- berger Sternwarte errichtet, wo dann Bessel die Position der Fundamen- talsterne berechnete und also die Einheit der astronomischen Bestimmun- gen sicherte; jetzt baute Schinkel die neue Berliner Sternwarte, die unter Enckes Leitung eine Musteranstalt wurde. Auch dabei half Humboldts Fürwort mit; er war die wärmende Sonne dieses Planetenkreises. Aber erst in den vierziger Jahren trat die deutsche Naturforschung in ihre Blütezeit und zeigte sich stark genug, die Franzosen erst zu erreichen, dann zu überholen. Während die Erfahrungswissenschaften also ihre stolze Siegesbahn be- schritten, war die Lebenskraft der alten deutschen Philosophie schon ge- brochen. Ihre klassische Zeit endete an Hegels Grabe. Wer nur von fern hinschaute, mochte freilich wähnen, daß der hohe Tag der Hegelschen Philosophie erst nach dem Tode des Meisters gekommen sei, denn jetzt erst erlangte sein Name den höchsten Ruhm, seine Schriften die weiteste Ver- v. Treitschke, Deutsche Geschichte. IV. 31