Die Tübinger Schule. 493 Bis zu diesem blöden Hasse, der dem Fanatismus Eschenmayers nichts nachgab, war der geistreiche Mann in fünf Jahren harter Kämpfe herabgesunken; nannten seine Feinde ihn einen Ischariot, so schimpfte er sie Idioten. Aus der Fülle seiner Belesenheit suchte er zu erweisen, daß im Grunde alle großen modernen Denker dieselbe Meinung über das Christentum gehegt hätten, und wollte der Beweis gar nicht glücken, so verschmähte er auch schlechte Sophistenkünste nicht. Wenn Lessing gesagt hatte: trotz aller Zweifel des Verstandes bleibe doch „die Reli— gion unverrückt in den Herzen derjenigen Christen, welche ein inneres Gefühl von dem Wahrhaften derselben erlangt hätten“ — eines jener herrlichen ursprünglichen Worte, aus denen sich abnehmen läßt, wie hoch Lessing über der gemeinen Aufklärung seiner Tage stand — so meinte Strauß kurzab, das sei nicht ernst gemeint, sondern lediglich ein dialek— tischer Fechterstreich. Nachdem er also haarklein bewiesen hatte, daß es mit dem Christentume nichts sei, hielt er sich zwanzig Jahre lang von allen theologischen Arbeiten fern. In diesem negierenden Kritiker lag gar nichts von der gestaltenden Kraft, von dem sittlichen Ernste des Refor— mators, der sein Herzblut dahingibt, bis er der widerstrebenden Welt seine Gedanken aufgezwungen hat; er warf die Feder aus der Hand, sobald er gefunden zu haben glaubte, daß die Geschichte von achtzehn reichen Jahr- hunderten nichts als ein großer Irrtum gewesen sei. Die Einwirkung dieser Schriften auf die Zeitgenossen war zwei- schneidig, zugleich wohltätig und tief verderblich. Strauß erweckte die Theologie aus einer falschen Ruheseligkeit, er machte die natürlichen Wun- dererklärungen und die künstelnde Harmonistik für immer unmöglich. Sein Tübinger Lehrer Ferdinand Christian Baur, ein minder glänzender, aber ungleich stärkerer und tieferer Geist, der trotz seiner wissenschaftlichen Kühnheit an der ewigen Wahrheit des Christentums nie verzweifelte, wurde durch das Auftreten des Schülers veranlaßt, die historischen Unter- suchungen über die Anfänge des Christentums, an denen er seit Jahren gearbeitet, weiter zu führen. Baur gab endlich, was bisher noch ganz ge- fehlt hatte, eine Kritik der Evangelien selber und gelangte zu dem Ergebnisse, das ursprüngliche Judenchristentum sei erst durch den Apostel Paulus zu einer Weltreligion geworden. Mehrere tüchtige junge Gelehrte, Zeller, Schwegler, Köstlin schlossen sich ihm an. Diese neue Tübinger Schule bereitete durch ernste scharfsinnige Forschungen erst den wissenschaftlichen Boden für eine historische Darstellung der ersten christlichen Zeiten, ob- wohl sie für die Macht der historischen Persönlichkeit auch nur wenig Ver- ständnis zeigte, und viele ihrer Behauptungen heute schon längst wider- legt sind. Die Pietisten dagegen und die Orthodoxen, überhaupt alle, denen die Offenbarung oder die theologische Standesehre am Herzen lag, mußten durch Straußens Angriff auf die christlichen Idioten erbittert werden; sie sahen