Das Lager von Kalisch. 513 zweier Ritter, welche die Fahnen der beiden Nationen trugen. Trotz alle- dem trat gerade bei dieser Heerschau grell zu Tage, daß die Verbrüderung der beiden Reiche lediglich auf dynastischen Gefühlen und politischer Be- rechnung, keineswegs auf den Neigungen der Völker beruhte. Recht be- friedigt waren von allen Preußen nur Oberst von Rauch, der Militär- bevollmächtigte in Petersburg, des Zaren erklärter Liebling, der fortan durch viele Jahre das Haupt der Russenfreunde blieb, und der Herausgeber des Soldatenfreundes, der Schauspieler Louis Schneider, ein glühender Verehrer des Zaren; der fühlte sich selig, als Nikolaus „dem königlich preußischen Unteroffizier Leontin Abrahamowitsch Schneider“ eine Voll- macht zur Besichtigung des Lagers gegeben hatte, und sendete der Staats- zeitung bedientenhafte Berichte über die moskowitischen Herrlichkeiten. Die anderen — im stillen auch der König selbst — fühlten sehr lebhaft, daß dies nutzlose militärische Gepränge ein politischer Fehler war. Eine so innige Freundschaft, wie sie hier zur Schau getragen wurde, kann zwischen unabhängigen Staaten nur während eines gemeinsamen Krieges, im Frieden niemals bestehen. Da Preußen nach der Meinung der Welt der schwächere Teil war, so setzte er sich der üblen Nachrede aus, daß der Zar in Berlin gebiete. Die liberale Presse säumte nicht, diese Schwäche auszubeuten. Zu- gleich erging sie sich in pathetischen Klagen über die unsinnige Verschwen- dung der nordischen Despoten; wußte man doch, daß selbst Fürst Wittgen- stein geäußert hatte, solche Paradefeste gehörten in die Zeit Augusts des Starken, nicht in die Gegenwart. Daß der König die außerordentlichen Kosten auf seine Schatulle übernahm, blieb den Zeitungen unbekannt. Den preußischen Offizieren ward nicht wohl bei den beharrlichen Freundschaftsversicherungen des Zaren, der ihnen immer wieder beteuerte: „Sie glauben gar nicht, wie glücklich ich mich unter Ihnen fühle.“ Nur zu gut war ihnen bekannt, welche brutale Härte dieser Liebenswürdige unterweilen zeigen konnte, und sie rühmten gern, wie freimütig ihr General Wrangel kürzlich den tapferen General Karl Nostitz und dessen Kosaken gegen den schimpfenden Kaiser in Schutz genommen hatte; das sei ein ungerechter Tadel, hatte der Preuße gesagt, einen solchen kurzen Paradegalopp dürfe man ungeschulten Steppenpferden nicht zumuten. Sie wollten sich auch kein Herz fassen zu diesen russischen Kameraden, die ent- weder aller Kultur entbehrten oder durch französische Salonbildungglänzten. Sie bemerkten bald die mangelhafte Bewaffnung, die elende Verpflegung, die unmenschliche Mannszucht in vielen russischen Regimentern, und ob- wohl sie sich selbst in der langen Friedenszeit an manche unlebendige Manöprierkünste gewöhnt hatten, so sahen sie doch mit Verwunderung, wie der Zar jede Bewegung der kämpfenden Truppenteile Zug um Zug selber leitete, seine Generale nur die überbrachten Befehle mechanisch weitergaben. Noch weniger konnte sich ein kameradschaftliches Verhältnis zwischen den Mannschaften bilden, obgleich die preußischen Garden beim v. Treitschke, Deutsche Geschichte. IV. 33