Radowitz. 21 Kreise des alten Landesadels eingetreten war, blieb er den strengen Alt— preußen noch lange als Fremdling verdächtig. Manche nannten den edlen, alle Ränkesucht mißachtenden Mann einen neuen Cagliostro, die meisten einen verkappten Jesuiten. Der eifrig protestantische, den konstitutionellen Ideen zugeneigte Kriegsminister Witzleben hielt endlich für nötig, diesen katholischen Legitimisten aus der Umgebung des Kronprinzen zu entfernen — um dieselbe Zeit, da auch General Gröben und Oberst Gerlach in die Provinz versetzt wurden. Der alte König genehmigte den Antrag, aber in seiner gerechten Weise: er ernannte den kaum vierzigjährigen Stabs- offizier zum Nachfolger des Generals Wolzogen bei der Militärkommission des Bundestags. Auch dort wurde Radowitz durch Fleiß und geistige Überlegenheit den bequemeren Amtsgenossen bald sehr lästig. Der Sohn einer gemischten Ehe und in der Kindheit evangelisch erzogen, hatte er sich erst in seinen reiferen Jugendjahren, mit wachem Bewußtsein der römischen Kirche zugewendet und in ihr so gänzlich seinen Frieden gefun- den, daß er kurzweg aussprach, jede Wahrheit sei katholisch. Sein ent- sagendes Denkerleben führte ihn zu einer mönchisch strengen Auffassung der sittlichen Welt. Niemals erkannte er, daß das sittliche Ideal der Protestanten, die Einheit des Denkens und des Wollens, dem schwachen Sterblichen weit schwerere Pflichten auferlegt als die Werkheiligkeit der Katholiken. In dem Cölibate sah er nicht ein Meisterstück päpstlicher Politik, ein klug ersonnenes Machtmittel, das den Klerus als eine ge- schlossene Priesterkaste von der bürgerlichen Gesellschaft abtrennen soll, sondern eine hohe sittliche Idee; den Kampf der Protestanten wider diese frevelhafte Verstümmelung der Natur konnte er sich nur aus der Fleisches- lust erklären, obgleich er selbst in einer glücklichen, mit Kindern gesegneten Ehe lebte. Bei solcher Gesinnung mußte er den Kölnischen Bischofsstreit mit tiefem Kummer betrachten. Die Freude an seinem neuen preußischen Vaterlande erlitt plötzlich einen schweren Stoß, und er pries es als eine gnädige Fügung, daß sein Amt ihn nicht nötigte, in diesem Kampfe öffentlich Farbe zu bekennen. Ebenso einseitig war auch, trotz aller Gelehrsamkeit, sein ästhetisches Urteil. Goethes warme Sinnlichkeit blieb ihm so unverständlich wie die gesamte Bildhauerkunst, weil sie in der Darstellung heidnischer Nackt- heit ihr Höchstes leistet, und den letzten Quell aller modernen Sünden suchte er in der großen Zeit des Cinquecento, in der Wiederbelebung des klassischen Heidentums. Daher verabscheute er, ganz in Hallers Sinne, die Revolution als ein teuflisches Prinzip und bekämpfte die gesamte neuere Staatslehre, weil sie den Staat nicht als den Schutzherrn, son- dern als den Schöpfer des Rechts betrachte. Noch war ihm nicht klar, daß der rechtsbildende Gemeingeist der modernen Völker sich gerade in ihrer Gesetzgebung ausspricht, und die historische Entwicklung des Rechts heute nicht mehr ohne die Mitwirkung frei geordneter Staatsgewalten