74 V. 2. Die Kriegsgefahr. entgegensetzen, daß vielleicht die Türkei selbst darüber in Trümmer gehen könnte. Palmerston kannte die augenblickliche Lage besser, er versprach sich einen raschen Erfolg von den Zwangsmaßregeln gegen den Ägypter. Die Verhandlungen zogen sich durch mehrere Monate ohne Entscheidung dahin. Unterdessen klagten die Gesandten der drei Ostmächte laut und lauter über die „subversive“ Politik der Tuilerien, die Londoner Regierungsblätter sprachen von Frankreich in einem anmaßenden Tone, der von drüben ebenso kräftig erwidert wurde. Palmerston fühlte sich durch den hart— näckigen Widerspruch der Franzosen schwer gereizt und sagte in einem Artikel seines Morning Chronicle drohend: England würde sich gezwungen sehen, den alten Vierbund der konservativen Mächte zu erneuern. Brunnow, der mit seiner glatten, kühlen Freundlichkeit dem ungestümen Lord immer überlegen blieb, half in der Stille nach. Mehr und mehr befreundeten sich die Gesandten mit der russischen Ansicht, daß man die orientalische Frage auch zu vieren, ohne Frankreichs Mitwirkung, lösen könne. Dennoch zauderte Palmerston noch lange. Die schwache, von Lord Melbourne sehr schlaff geleitete Whig-Regierung hatte sich längst über— lebt. Schon vorm Jahre war sie durch das Parlament gestürzt und nur durch den lächerlichen Zwischenfall der sogenannten Schlafstubenfrage vor- läufig wieder aufgerichtet worden. Damals hatte die junge Königin zum ersten Male etwas gezeigt, was einem politischen Willen ähnlich sah, und sich entschieden geweigert, ihre whiggistischen Hosdamen, wie die Torys verlangten, zu entlassen. Nur dieser persönlichen Vorliebe der Monarchin verdankten die Whigs die Wiederherstellung ihrer Herrschaft, welche schon seit Jahren nicht mehr auf eine feste Mehrheit im Parlamente zählen konnte. Und dies altersmüde Kabinett war über die Fragen der großen Politik keineswegs eines Sinnes. Die Lords Holland, Clarendon und viele andere der nächsten Freunde und Amtsgenossen Palmerstons hielten einen Bruch mit Frankreich für rein undenkbar; auf der entente cor- diale oder ihrem Namen beruhte ja die ganze Stellung, welche England während des letzten Jahrzehntes in Europa eingenommen hatte. Selbst unter den Torys war die Meinung weit verbreitet, daß die Quadrupel- allianz der liberalen Weststaaten den Weltfrieden, das Gleichgewicht Euro- pas aufrecht erhalten habe und nimmermehr durch die Erneuerung des alten konservativen Vierbundes ersetzt werden dürfe. Also wurde Pal- merston zwischen den verschiedensten Bedenken hin und her geschleudert und gelangte immer wieder zu dem Schlusse: man müsse die Dinge hin- zuhalten suchen.*) Er hoffte kaum noch den Tuilerienhof umzustimmen und wollte doch den Bruch vermeiden. Noch am 11. Juni schrieb er dem drängenden österreichischen Bevollmächtigten Neumann: „Ich ziehe eine zeitweilige Verzögerung einem sofortigen schlechten Ende vor.“77) *) Bülows Berichte, 26. Mai, 26. Juni 1840. *“) Palmerston an Neumann, 11. Juni 1840.