Neue Blütezeit des badischen Liberalismus. 329 der Grund des allgemeinen Hasses tiefer: das Volk empfand dunkel, daß Blittersdorff in der Tat darauf ausging, die Landesverfassung, nötigen— falls mit Hilfe des Bundestages, umzugestalten. Wer die wüste Hetzerei dieser Wahlkämpfe nüchtern beobachtete, mußte schon ahnen, daß eine Revolution herannahte. Die Liberalen siegten vollständig, sie erlangten zum ersten Male seit langer Zeit wieder eine sichere Mehrheit in der zweiten Kammer, eine Mehrheit freilich, die mit den Gegnern auf Tod und Leben verfeindet war. Vater Itzstein machte seinem volkstümlichen Beinamen Ehre: er hatte trefflich verstanden, seiner Partei einen Nachwuchs heranzuziehen. Zu den alten Kämpen des Liberalismus gesellten sich jetzt der feurige, herrschsüchtige, von seinen Freunden Marat genannte Jurist Sander; dann der Mann— heimer Buchhändler Bassermann, ein warmherziger Vertreter des gebil— deten, besitzenden Bürgertums, der nur durch die rückhaltlose Offenheit seiner Reden in den Ruf radikaler Gesinnung kam; endlich, alle anderen überragend, Karl Mathy. Nach langen Jahren schließlich freigesprochen, hatte Mathy sein stilles Schulmeisteramt in der Schweiz verlassen und die alte Heimat wieder aufgesucht. In den Kreisen der Regierung galt er fast für den schlimmsten aller Demagogen; wenn er sich langsam erhob, mit seinen großen, ruhigen blauen Augen den Ministern gerade ins Ge— sicht sah und dann kalt in wohlerwogenen ironischen Sätzen ihnen seine Vorwürfe zuschleuderte, so verwundete er tiefer als Welckers pathetische Entrüstung. Und doch war er der einzige staatsmännische Kopf in den Reihen der Opposition; er besaß die Mäßigung, die der gründlichen Kennt- nis entspringt, er verschmähte die Phrase, sprach immer zur Sache, am liebsten über Finanzfragen und nur wenn ein Erfolg möglich schien. Dank dem wilden Ansturm Blittersdorffs erlebte der badische Libera- lismus jetzt nochmals eine Zeit der Blüte wie einst auf dem großen Land- tage von 1831. Was nützte es, daß die Minister beschlossen, den Verhand- lungen des neuen Landtags zunächst fern zu bleiben, damit die Opposition sich durch ihre Zornreden wider die leeren Regierungsbänke lächerlich machen sollte? Alle Welt sah darin nur ein Zeichen der Schwäche. Mathys vielgelesene Landtagszeitung verbreitete ausführliche, klug berechnete Mit- teilungen aus dem Ständesaale bis in die entlegensten Walddörfer. Weither, selbst aus Württemberg und der bayrischen Pfalz kamen die Neugierigen herbei; die Kammer ward zum Theater, und die Zuschauer spielten mit. Welch ein Fest, wenn der Präsident die überfüllten Galerien wegen grober Ruhestörung räumen ließ und bald nachher auf den Antrag eines libe- ralen Abgeordneten das souveräne Volk wieder eingelassen wurde, um den Lärm von neuem zu beginnen. Damen saßen auf den Stufen des Prä- sidentenstuhls, andere Gäste mitten im Saale, als Bassermann die ab- wesenden Minister, „die Beamten des Volks“ zur schuldigen Rechenschaft vorforderte, als ergrimmte Redner die schmutzige Wäsche des jüngsten Wahl-