336 V. 4. Die Parteiung in der Kirche. noch zwei junge Bonner Professoren, der Orientalist J. Gildemeister und der Historiker H. v. Sybel in einer streitbaren, aber ernsten, streng wissen— schaftlichen Schrift über „den heiligen Rock zu Trier und die zwanzig anderen heiligen ungenähten Röcke“, welch ein Unfug die Jahrhunderte hindurch mit dieser gefälschten Reliquie getrieben worden war. Doch was vermochten Gründe wider den frommen Wahn? Was galt es den römischen Priestern, daß Nitzsch zu Bonn in einer herrlichen Predigt die Protestanten ermahnte, statt der toten Reliquie die Heilkraft des lebendigen Christus zu verehren, und mitleidig ausrief: o der Armen, denen das Evangelium nicht gepredigt wird! Binnen sieben Wochen strömten eine Million und hunderttausend Pilger nach Trier; in allen Städten und Dörfern des schönen Mosellandes läuteten die Glocken, so oft ein Zug von Wall— fahrern mit wehenden Kirchenfahnen herankam; die Gastwirte, die Bil— derkrämer, die Paramentenhändler der Bischofsstadt hielten eine goldene Ernte, und inbrünstig erklang im Dome das Stoßgebet: heiliger Rock, bitt' für uns! Auch die Mirakel blieben nicht aus. Eine Verwandte des alten Erzbischofs Droste-Vischering wähnte durch den Anblick des Rocks von einer Lähmung geheilt zu sein; und das Bänkelsängerlied spottete ihr nach: Du Rock bist ganz unnätig, drum bist du auch so gnädig! Ernste Protestanten konnten nur mit Besorgnis wahrnehmen, wie verblendet der Klerus gerade die alten Mißbräuche neu belebte, welche einst die Reformation unmittelbar veranlaßt hatten. Da erklang plötzlich ein gellender Widerspruch aus der Mitte der Priesterschaft selbst. Ein junger, vor kurzem wegen eines freigeistigen Zeitungsartikels suspendierter Kaplan zu Laurahütte in Oberschlesien, Jo- hannes Ronge, veröffentlichte in den radikalen Sächsischen Vaterlands- blättern ein Schreiben an Arnoldi, das den Bischof wegen seines „Götzen= festes“ scharf angriff und in dem Satze gipfelte: „Schon ergreift der Ge- schichtsschreiber den Griffel und übergibt Ihren Namen, Arnoldi, der Verachtung bei Mit= und Nachwelt und bezeichnet Sie als den Tetzel des neunzehnten Jahrhunderts.“ Diese Worte bewiesen schon genugsam, daß der eitle Mann, der sich so deutlich selber für einen neuen Luther aus- gab, nicht aus dem Holze der Reformatoren geschnitzt war. Ihn entflammte ein achtungswertes Gefühl jugendlicher Entrüstung wider das Schau- gepränge römischer Werkheiligkeit; doch von dem Ernste, dem Tiefsinn, der Selbstverleugnung des Glaubenshelden lag nichts in ihm. Sein Brief wiederholte lediglich alte Wahrheiten, die der Protestantismus längst kühner und würdiger ausgesprochen hatte; neu war daran nur der moderne journalistische Stil und das patriotische Pathos. „Erzürnen Sie nicht die Manen Ihrer Väter, welche das Kapitol zerbrachen, indem Sie die Engels- burg in Deutschland dulden“ — so rief er dem Bischof zu, und man konnte leicht erraten, daß er seine Weltanschauung gutenteils der Rotteck- schen Weltgeschichte verdankte.