Fünfter Abschnitt. Realismus in Kunst und Wissenschaft. Treuer als die so oft durch politische Hintergedanken verdunkelten und verfälschten kirchlichen Kämpfe spiegelte die Literatur den Geist dieser weltlichen Tage wieder. Unverloren blieb ihr das beste Vermächtnis des Jungen Deutschlands, der Drang nach dem Wirklichen, nach dem modernen Leben; die politische Leidenschaft, die Ahnung eines nahenden großen Umschwungs zwang sich jedem ernsten Geiste so mächtig auf, daß selbst die strenge Wissenschaft sich der Tendenz nur selten ganz zu erwehren vermochte. Künstlerische Andacht konnte einem so friedlosen, aufgeregten Geschlechte nicht leicht fallen; gleichwohl begann der Formensinn un- verkennbar wieder zu erstarken nach der wüsten ästhetischen Verwilderung der dreißiger Jahre. Die Herrschaft des souveränen Feuilletons war ge- brochen; all der Wulst von eilfertigen Kritiken, Zeitbildern, Capriccios und Halbnovellen, die ganze trübe Vermischung von Poesie und Prosa, die im letzten Jahrzehnt für geistreich gegolten hatte, erschien jetzt schal und abgestanden. Wieder einmal bewährte sich die alte Erfahrung, daß die Zeit nichts verschont, was ohne sie geschaffen ist. Auch die witzelnde Frechheit des Judentums behauptete nicht mehr ihre Macht über die Leserwelt. Wohl hatte sich die Schar der jüdischen Journalisten ge- waltig vermehrt, und wenn ein junger Schriftsteller auf Zeitungsruhm ausging, so mußte er sich vor jeder Kränkung der orientalischen Eitelkeit sorgsam hüten; aber die alten literarischen Chorführer, Börne, Gans, die Rahel waren gestorben, Heine hatte seine Blütezeit längst hinter sich. Neue Talente kamen empor, fast alle deutschen Blutes, fast alle beseelt von einer jugendlichen lyrischen Begeisterung, welche dem Jungen Deutschland immer gefehlt hatte. Gleich ihren Vorgängern fühlten sie sich als Kämpfer der Freiheit und panzerten ihre Muse mit dem Waffenschmuck der poli- tischen Tendenz; doch zugleich erwachte wieder die Freude an Bild und Reim; Kritik und Witz genügten nicht mehr, die neuen Zeitpoeten schwelgten im Wohllaut des Verses und zeigten sich schon durch den Adel der Kunst- form dem Feuilletongeplauder des letzten Jahrzehntes überlegen.