740 V. 10. Vorboten der europäischen Revolution. Eindrücke, welche Radowitz in Paris empfing freilich nicht überein. Die preußische Gesandtschaft, Heinrich Arnim so gut wie sein erster Rat Graf Hatzfeldt, beobachtete mit Entsetzen, wie verblendet dies tugendstolze und tugendlose Regiment alle Zeichen der Zeit mißachtete. Die lärmenden Reformbankette der Radikalen bekundeten laut den Groll der unvertretenen Volksklassen gegen das allein herrschende pays légal; der schmähliche Fall des Ministers Teste, die Ermordung der Herzogin von Praslin und so viele andere Skandäle in der vornehmen Welt bezeugten, wie tief diese Herrschaft des Geldbeutels schon in ihren sittlichen Grundlagen zerfressen war. In der Kammer sprach Alexis v. Tocqueville das Kassandra-Wort: Sehen Sie denn nicht, daß die politischen Leidenschaften sozial geworden sind? wir schlafen auf einem Vulkane! Angesichts solcher Anzeichen sagte Guizot erhaben: Es gibt hier nur zwei wichtige Dinge: freie Vollmacht von seiten des Königs und die Stimmkugeln der Kammer. Ich habe beides, und wenn man sich draußen den Kugeln der Kammer nicht unter— wirft, so habe ich Kartätschen, um ihren Entscheidungen Achtung zu ver— schaffen. Und im Tone vollendeter Selbstgewißheit gab er den Preußen die gute Lehre: sie müßten, nachdem sie den Vereinigten Landtag ge— schaffen, nunmehr als Gegengewicht das Präfektursystem einführen; ihre kollegialischen Regierungsbehörden seien zu langsam und zu unabhängig.“) Ebenso verblendet zeigte sich der Bürgerkönig selbst. Eines Tages wies er dem preußischen Gesandten wohlgefällig den Plan von Paris vor: wie die Stadt von den neuen Forts so gänzlich eingeschlossen sei; beim Straßenkampfe müsse die Nationalgarde vorangehen; zeige sie sich un- zuverlässig, so würde sie von den nachfolgenden Linientruppen nieder- geschossen. Arnim dachte im stillen: wenn diese ruchlos zuversichtliche Regierung dauert, dann lebt kein Gott im Himmel mehr! Er verglich dies ideenlose, allein auf die scheinbare Gesetzlichkeit des Jahres 1830 und auf die bewaffnete Macht gestützte Regiment einer verdorbenen Uhr, deren Schlüssel verloren gegangen sei.) Ahnlicher Befürchtungen konnte auch Radowitz sich nicht enthalten. Indessen wurde am 18. Jan. 1848 von Frankreich, Preußen und Oster- reich eine gemeinsame Note unterzeichnet, welche die Eidgenossen auffor- derte, die Sonderbundskantone zu räumen und deren Unabhängigkeit an- zuerkennen — was im wesentlichen schon geschehen war. Sodann ver- langten die Mächte, eine Veränderung der Bundesverfassung dürfe nur durch einstimmigen Beschluß erfolgen. Was wollte diese Forderung jetzt noch bedeuten? Der Radikalismus herrschte ja schon in der Tagsatzung, und außer Neuenburg besaß nur noch der konservative Halbkanton Basel- Stadt den Mut, der siegreichen Partei zu widersprechen. Das ver- *) Hatzfelds Berichte an Canitz, 21. Juli 1847. **) H. v. Arnims Bericht, 13. Febr. 1848.