entfremdet haben. Wir wundern uns gar nicht mehr, wenn ein tief empfundenes Kunstwerk als Nr. 59 unter „Fünf Dutzend neuer Romane“ abgeschlachtet wird, wenn eine Dichtung von G. Freytag oder G. Keller alles Ernstes in eine Reihe gestellt wird mit den Arbeiten der Frau Mühlbach oder ähnlichen Pro— dukten einer volkswirtschaftlichen Tätigkeit, welche sich lediglich durch das Verhältnis von Angebot und Nachfrage bestimmen läßt. Wir fühlen uns nicht mehr befremdet, wenn jener beliebige Herr Schultze, der im Erdgeschoß einer politischen Zeitung seinen kritischen Sorgen— stuhl aufgestellt hat, mit den Dichtern und Denkern, deren Werke er beschwatzt, auf du und du oder gar im Tone des Schul— meisters verkehrt. Wir empfinden für den Kritiker sogar eine ge— wisse Hochachtung, wenn er die Kenntnisse eines angehenden Ober— sekundaners entfaltet — eine Bildungsstufe, welche in diesen Kreisen unserer Literatur nicht allzuhäufig erklommen wird. Begreiflich in der Tat, wenn ein starker Künstlergeist, angeekelt von diesem nichts- nutzigen belletristischen Treiben, auch die ehrenwerten Ausnahmen übersieht, welche in unserer Presse zuweilen noch auftauchen, und grimmig seine Straße zieht. Doch das schwerste Hemmnis, das die Gegenwart den drama- tischen Dichtern in den Weg wirft, ist die Gärung, die Unsicher- heit unserer sittlichen Begriffe. Wie viel einfacher als der moderne Mensch standen unsere großen Dichter zu den Problemen des sitt- lichen Lebens! Welchen sittlichen und ästhetischen Schatz besaß Schiller an Kants kategorischem Imperativ — eine großartige, streng sittliche Weltanschauung, wie geschaffen für den Dramatiker, denn sie läßt dem tragischen Charakter ungeschmälert die Freiheit. Seit die neue Philosophie den Glauben an Gott und Unsterblich- keit erschüttert hat, seit die Naturforschung beginnt den Zusammen- hang von Leib und Seele schärfer zu beleuchten, steht der Dichter, wenn er zugleich ein Denker ist, den einfachsten und schwersten sittlichen Fragen minder unbefangen gegenüber; selbst die Idee der tragischen Schuld und Zurechnung, die dem Dramatiker unbedingt feststehen muß, wird ihm leicht durch Zweifel verwirrt und getrübt. 278