des Nibelungenliedes ist uns verständlicher als dieser Dietrich, der so befremdlich mitteninne steht zwischen der heidnischen und der christlichen Welt. Gerade vor diesem schönen Drama haben wir aufs neue emp— funden, wie ganz eigen unser Volk zu seiner Geschichte steht, wie vertraut und zugleich wie fremd die Jugend unseres Volkes uns erscheint. Jene jugendliche Naivität des Naturlebens, welche sich im Drama schon wegen seiner klaren bewußten Kunstform nur leise andeuten läßt und nur in der Breite des Epos zu ihrem vollen Rechte kommt — sie ist es, die noch heute das Gemüt des Deutschen zu seinen alten Mythen hinzieht. Was aber des Dra- matikers eigentliche Aufgabe bildet, das Gemütsleben dieser epischen Zeit, das ist uns in solchem Maße fremd geworden, daß wir dreist behaupten können, ein Trauerspiel aus der französischen oder italieni- schen Gegenwart dürfe sich heute mit größerem Rechte ein deutsches Trauerspiel nennen als eine Dramatisierung der Nibelungensage. Dem Dramatiker sind, weil seine Kunst gewaltiger als irgendeine andere den ganzen Menschen erschüttert, engere Schranken gesetzt bei der Wahl seiner Stoffe als dem Maler oder dem erzählenden Dichter; und dieser Einsicht voll hat sicher schon mancher moderne Poet der reizenden Versuchung dieser Fabel widerstanden. So gewiß wir beim Hören von Uhlands Ballade „Jung Siegfried“ uns willig in die alte Wunderwelt versenken, ebenso gewiß ruft das Drama den Verstand zum schonungslosen Mitsprechen auf. Indem Hebbel seine Recken gänzlich aus der Welt unseres Denkens und Empfindens heraushob, hat er zwar den einzigen Ton an- geschlagen, der diesem Stoffe geziemt, doch er hat zugleich verzichtet auf die höchste Lust des Dramatikers, daß die Hörer fortwährend mit seinen Helden leiden und denken, sie treiben oder zurückhalten möchten. Allerdings bietet dies Drama auch mehrere Charaktere, welche uns völlig verständlich sind, namentlich den Charakter der Kriemhild, den nach unserem Gefühle schönsten des Werkes — wie ja auch Shakespeare in dieser alten Sagenzeit mehrere Stoffe von rein menschlichem für alle Zeiten gültigem Gehalte gefunden 302