H. Ermisch: Die Anfänge des sächsischen Städtewesens. 129 den Anlaß gegeben. Die einen legten das Hauptgewicht auf die gerichtlichen Verhältnisse; ein Ort wurde zur Stadt dadurch, daß er sich loslöste aus dem Gerichtsverband des Gaus, daß er einen eignen Gerichtsbezirk bildete. Andere sahen in dem Zusammenschluß der Kaufleute und Handwerker zu Genossenschaften, Gilden, Innungen den Ursprung der Stadt; sie fanden die Keime dieser Genossenschaften in den Verbänden unfreier Unter— thanen der großen Grundherrschaften und kamen so zu dem Ergebnis, daß die Städte, deren geschichtliche Bedeutung nicht zum mindesten in der Wahrung der persönlichen Freiheit liegt, auf dem Boden der Unfreiheit er— wachsen sind. Auch diese Theorie hat nicht mehr viel Anhänger. Da- gegen steht noch jetzt der Landgemeindetheorie gegenüber die neuer- dings namentlich von Sohm in geistvollster Weise vertretene Markt- theorie, die im Bestehen eines Marktes das wesentliche Kennzeichen der Stadt erblickt und aus den Einrichtungen des Marktes die Verfassung und Ver- waltung der Stadt ableitet. Allen diesen Theorien ist ein Fehler gemein- sam: sie suchen den Reichtum verschiedenartigster Erscheinungen, die das ge- schichtliche Leben zeitigt, aus ein und derselben Wurzel herzuleiten; und das geht nicht ohne Gewaltsamkeit ab. Wollen wir zu einer unbefangenen Würdigung der Vorgänge gelangen, so müssen wir unabhängig von Theorien lediglich die Erscheinungen beobachten. Vor allem aber müssen wir uns klar machen: was verstand das Mittel- alter unter einer Stadt im Gegensatz zu einem Dorfe? Im Anschlusse an eine Definition v. Belows, der sich um die Geschichte des Städtewesens ohne Frage sehr große Verdienste erworben hat, möchten wir vier Punkte als entscheidend für den Unterschied zwischen Dorf und Stadt bezeichnen: 1. das Bestehen eines Marktes, 2. die Ummauerung, 3. das Bestehen eines besonderen Gerichtsbezirks für die Stadt, ihre Auslösung aus dem Gau, dem Gebiete des allgemeinen Landgerichts, 4. die abweichende Gestaltung der Ge- meindeeinrichtungen. Wenn Below noch als fünften Punkt hinzufügt die Bevorzugung der Stadt vor dem Lande im Bezug auf öffentliche Lasten, so haben wir darin wohl eher eine Folge der schon vorhandenen städtischen Eigen- schaft als ein Kennzeichen derselben zu sehen. Auch das Bestehen eines Marktes ist nicht das untrügliche Kennzeichen einer Stadt; es hat stets Marktorte gegeben, die nicht zu Städten geworden sind. Immerhin aber ist eine mittelalterliche Stadt ohne Markt nicht denkbar; der Markt gehört da- her unbedingt zum Begriff der mittelalterlichen Stadt. Der Begriff der mittelalterlichen Stadt ist also sehr verschieden von dem der heutigen. Die Mauern der Städte sind längst gefallen; ja vielfach hat gerade ihre Be- seitigung eine ausschlaggebende Bedeutung für die moderne Entwickelung der Städte gewonnen. Es hat sich ferner längst ein Staatsbürgertum entwickelt, das die Klassenunterschiede zwischen den Stadt= und den Dorfbewohnern Wuttke, sächsische Volkskunde. 2. Aunffll. 9