6. Stand und Wachstum. Von Robert Wuttke. „Der Mensch ist frei geschaffen, ist frei", sagt unser Volksdichter. Wie ein Mensch handelt, was er spricht, erscheint uns als freie Bethätigung seiner inneren Persönlichkeit. Wir sehen keine sichtbare Macht, die seinen Geist bewegt, seinen Arm lenkt und seinen Willen unter sich beugt. Alle und jede Erforschung menschlicher Eigenart hat seit Jahr- hunderten immer und immer wieder zu dem Ergebnis geführt: der Mensch ist, als ein von Natur freigebornes Wesen, allein verantwortlich für all sein Thun und Handeln. Wissenschaft und Kunst nehmen den einzelnen Menschen zum Ausgangs- punkt ihrer Betrachtung. In der möglichst freien, unbehinderten Entfaltung des einzelnen Menschen sehen sie das Ideal menschlicher Entwickelung. Die Dichtung spiegelt uns sein Seelenleben wieder; Drama und Roman suchen sein Schicksal darzustellen und in der Lyrik hören wir die tiefsten Töne er- klingen, von all' dem, was einen Menschen freudig und schmerzlich bewegt. Für die bildenden Künste wurde früher, und noch schärfer in der Gegenwart betont: das höchste was die Kunst zu leisten vermöge, sei nicht die Wieder- gabe der uns umgebenden Natur, es sei ausschließlich die gestaltende Lebens- kraft des Künstlers; durch ihn erst lernten wir die Schönheiten der Natur empfinden und sehen. Und doch hat man schon frühzeitig beobachtet, daß es in der Gesellschaft, im Staate Mächte giebt, die den Einzelnen beherrschen, ihn in Abhängigkeit halten und seine Entwickelung hemmen. Man erkannte an, wie innerhalb der Volksgemeinschaft der Stand, dem jemand angehört, der Beruf, den er ausübt, — die Lebensstellung und die Wirksamkeit, die dem Einzelnen im Volksganzen zugewiesen sind — einen maßgebenden Einfluß auf seinen Lebens- gang, wie auf sein Denken und Handeln ausüben. Man sah, wie ein jeder das Geschick seines Volkes mittragen muß, wie er schuldig oder schuldlos in den Auf= und Niedergang seines Volkes mit hineingezogen wird. So bereitete sich langsam die Erkenntnis vor, daß der Einzelne sich aus seiner Volksgemeinschaft nicht herauslösen lasse und daß sein Schicksal von sozialen Mächten abhängig sei, die nicht er, sondern die ihn beherrschen.