S. Verbrechen und Selbstmord. Von Robert Wuttke. Sn mehr als einer Beziehung haben wir Sachsen Ursache auf unseren Volksstamm stolz zu sein, denn wenige Staaten in der Welt befinden sich in einer so erfreulichen Entwickelung aller Volkskräfte und leisten in diesem Jahrhundert in Gewerbe, Kunst und Wissenschaft so Hervorragendes wie gerade Sachsen. Jede Staats-, Gesellschafts= und Wirtschaftsordnung zeigt aber ihr eigentümliche Gebrechen und Schäden, die wohl mit jeder neuen Kultur- stufe schwinden, aber nur um in anderen Formen wieder zu erscheinen, denn die Menschen leben in anderen Verhältnissen in einem Agrar= als in einem Industrie-Staat und anders unter der Natural= als unter der Geld-Wirtschaft. In seinem Entwickelungsgang drohen einem Volke ähnliche wechselnde, sittliche Gefahren wie dem einzelnen Menschen in seiner Lebenslaufbahn; in immer neuer Gestalt schmiegt sich die Versuchung dem Beruf und der Lebensstellung an und sie zeigt ein anderes Gesicht der Jugend, ein anderes der Mannheit. Auch wir haben die Aufgabe den Gebrechen unseres Volkes nachzugehen, denn sie lassen uns tief in die Volksseele blicken, und wollten wir sie nicht berücksichtigen, so wäre jeder Schluß auf den Volkscharakter einseitig und verfehlt. Wir müssen aber unserer Untersuchung enge Grenzen ziehen und uns darauf beschränken, einige wesentliche Thatsachen hervorzuheben. Zuerst werden wir die Frage zu beantworten suchen, wie groß ist die Zahl der in Sachsen begangenen Verbrechen und Vergehen, dann werden wir wieder Sachsen mit dem Reich und den größeren deutschen Bundesstaaten vergleichen, um einen Anhalt für die Beurteilung der sächsischen Verhältnisse zu gewinnen. Unsere Untersuchung würde wesentlich gefördert werden, wenn man innerhalb größerer Zeiträume das Auf= und Niedergehen einzelner Verbrechens- arten verfolgen könnte. Leider ist dies nicht möglich. Der Thatbestand des strafbaren Verbrechens, und den allein kann die Statistik erfassen, wird von der Gesetzgebung bestimmt; ändert sich diese, so muß sich auch die Art und Zahl der Verbrechen ändern. Das letzte halbe Jahrhundert hat einen beständigen Wechsel unseres Strafgesetzbuches gesehen; zuerst das sächsische Strafgesetzbuch vom 11. August 1855, es galt bis Ende 1868; dann das