12. Aberglaube und Volksmythen. Von Eugen Mogk. Der Aberglaube und Volksmythus sind die steten Begleiter volkstümlicher Sitten. Wie ohne diese ein Volk undenkbar ist, so giebt es auch kein Volk, das nicht einen Glauben besäße, der von den Gebildeten als falscher Glaube, als Aberglaube bezeichnet und deshalb meist verachtet wird. Gehen wir aber selbst mit uns einmal ganz offen zu Gericht: wer ist wohl ganz frei von Aberglauben? Ich habe manchen gebildeten und gelehrten Menschen kennen gelernt, der den Aberglauben im Grunde seiner Seele verurteilte und dessen Außerungen doch erschließen ließen, daß er sich in seinen Fesseln befand. War doch selbst ein Mann wie unser Bismarck mit seinem ruhigen, klaren Blicke nicht frei von Aberglauben. Die Beobachtung hat gelehrt, daß jeder Mensch von Gemüt, der noch Achtung vor und Glauben an ein höheres Wesen hat, im Banne des Aberglaubens steht, der eine mehr, der andere weniger. Volksmythus und Aberglaube führen uns in die frühesten Zeiten unseres Volkes zurück. Wie im Gedächtnis des einzelnen Menschen die Gedanken, Gefühle und Handlungen aus der Kindheit bis zum Greisenalter am festesten haften, so ist es auch bei den Völkern der Fall: was in der Ingendzeit unseres Volkes Herz und Gemüt bewegt hat, ist diesem im Laufe der Zeiten nicht verloren gegangen, und dahin gehört in erster Linie sein alter Glaube. So sehr auch Obrigkeiten und Geistliche gegen diesen alten Wahn geeifert, so harte Strafen auch den im Aberglauben Handelnden getroffen haben, jener Glaube der Väter ist in seiner Wurzel heute noch nicht ausgerottet. Wohl sind auch Volksmythus und Aberglaube nichts stetes; wie alle anderen Außerungen der Phantasie eines denkenden und fühlenden Volkes sind auch sie dem Wechsel der Zeiten und Geschlechter unterworfen gewesen, der Baum hat die alten Blätter abgeworfen und neue erhalten, er hat zu der einen Zeit mehr geblüht als zu der anderen, er hat fremde Sprößlinge ausgenommen, während alte Zweige verdorrt sind, aber Wurzel und Stamm sind die alten geblieben, und wenn auch heute durch unser Christentum ein beträchtlicher Teil des Markes vertrocknet ist, so lassen sich doch jene noch klar erkennen,