Cornelius Gurlitt: Die Zukunft der Volkstrachten. 555 Und ist doch die Klage über „Uniformität“, „Gleichmacherei“ weit ver- breitet. Die Absicht der diesem Streben Widersprechenden geht zwar auf das Besondere, thatsächlich aber mehrt sich das Allgemeine, wächst es uns über die Köpfe. Der Ruf erschallt jetzt so häufig an die Bauern: „Wahrt euer eigenartiges Kleid, bleibt treu den Gewohnheiten, der Tracht der Alten!“ Dieser Ruf ist doch, da wir selbst, die ihn ausstoßen, keine Anstalten machen uns bäuerisch zu kleiden, ein gegen das allgemeine Kleid gerichteter, ein Widerspruch gegen die Gleichheit, gegen das eine Nationalkostüm. Man kann es im Sinne des Historikers für bedauerlich ansehen, daß die Masse des ländlichen Volkes nicht beim Alten verharrt. Aber ich möchte das Verharren doch nicht über Gebühr loben. Denn der Stillstand war schwerlich jemals ein Zeichen großer Lebenskraft. Eine Mode entsteht dadurch, daß den wandelnden Lebensanschauungen gemäß das Kleid sich wandelt. Sie ist das Ergebnis der Arbeit aller an der Verschönerung der eigenen Erscheinung. Sie ist mithin eine der ur- wüchsigen Außerungen des Volksgeistes, selbst wenn sie entlehnt ist, wenn sie im wesentlichen im Nachahmen besteht. Der Volksgeist schafft dann schwächlich, er offenbart sich dadurch in seinem ungenügenden Wesen. Nicht die Mode ist schuld an der unerfreulichen Erscheinung seiner Schwäche, sondern der Stand des Volksgeistes selbst. Notwendigerweise kann ein frischer Geist sich mit dem ihm Uberkommenen nicht beruhigen. Es ist einer der tiefen Urtriebe des lebensfrohen Menschen, daß er sich seiner eigenen Erscheinung freut und daß er sich müht, sich selbst in günstiger Gestalt zu zeigen. Dieses Schmücken seiner selbst geht allem anderen Schmuck voraus, ist selbst den tiefst stehenden Völkern eigen. Dies Schmücken beruhigt sich aber nie mit dem gewonnenen Ergebnis, wenigstens nicht bei kräftig empfindenden Menschen. Die schönste Frau weiß täglich eine Locke anders zu legen, eine andere Blume ins Haar zu wählen, um sich selbst und andern täglich schöner zu erscheinen. Die vollkommenste Schönheit ermüdet, das Streben, dieser Ermüdung entgegen zu arbeiten, reizt zu leichten Umgestaltungen. So lange der Mensch nicht zu jenem angeblich philosophischen Alter gelangt ist, in dem er gleichgiltig gegen seine eigene Erscheinung wird, hat er stets notwendigerweise seine Erscheinung umzubilden. Er ändert an sich in dem Sinne, in dem er an anderen glückliche Anderungen sah; er bildet das fort, was ihm an Formgedanken im Gedächtnis blieb; er baut unwillkürlich die überkommenen Formgedanken seinem Wesen gemäß weiter aus; er arbeitet dadurch an dem mit, was die zeitgenössische Welt be- schäftigt. Dieser Formgedanke wird viele, vielleicht alle Köpfe unwillkürlich beschäftigen; man wird ihn vielfach bearbeiten, umformen; man wird in der Absicht auf Abwechslung und gesteigerte Wirkung ihn übertreiben; es wird eine Modethorheit entstehen in dieser Ubertreibung; die Mitarbeiter werden