562 Cornelius Gurlitt: Die Zukunft der Volkstrachten. härene Gewand eines Kleiderapostels. Einst erschien uns der Engländer „spleenig“, wenn er in Pumphosen und Shawl durch unsere Straßen zog, in einem ihm bequem erscheinenden Gewand. Er hatte den glücklichen Mut, sich nicht darum zu kümmern, ob ihn Frau Stadtrat Müller oder Herr Hofrat Schulze für „verrückt“ erklärten. Jetzt ahmen wir ihn nach. Schon das scheint mir ein Vorteil; besser schiene es mir, wenn wir selbständig das uns Bequeme, uns Behagende, uns Gefallende zu schaffen und zu tragen uns gewöhnen, unbekümmert um den Geschmack anderer, um die Mode. Nicht von anderen, sondern von uns selbst sollen wir statt Modetracht Volkstracht, Sondertracht fordern. Wir höhnten über „Zopf“, als mit der Durchführung der Reichs-Justizgesetze die Amtstracht der Richter aufkam. Heute spottet kein Mensch mehr darüber. Nur ist die sich hier äußernde Bewegung auf Sonder- tracht viel zu wenig vertieft, die neue Tracht viel zu sehr unter feste Gesetze gestellt worden. Niemand beklagt es, daß die Soldaten, die Geistlichen, die Bergleute, die Förster, die Studenten ihre besondere Tracht haben. Ich würde es als einen ästhetischen Fortschritt begrüßen, wenn z. B. wir Lehrer öffent- licher Schulanstalten eine Amtstracht einführten. Nicht eine draußen im Leben zwangsweise zu tragende Uniform, sondern ein bequemes, zweckdienliches, gefälliges Arbeitskleid, das zugleich zum Ehrenkleid wird. Der Überärmel aus schwarzem Tafft, der des Schulmeisterleins Rock vor Tintenflecken be- wahren soll, ist mir stets als ein beachtenswerter Anfang einer vernünftigen Lehrertracht erschienen, wenn ich mit Kreide bestaubt von der Tafel des Lehr- saales der Technischen Hochschule heimkehren wollte. Nach dieser Richtung etwas Zweckdienliches zu schaffen soll das Gewerbe sich mühen. Es wird schweren Stand haben, denn der Schulmeister ist nicht nur ein Pedant, er ist auch ganz außerordentlich eitel, er wird aus Furcht, lächerlich zu erscheinen, sehr schwer zu erziehen sein, in Schönheitsfragen selbständig zu denken. Er wird an sich zu erproben haben, inwicweit der an die Bauern gerichtete Wunsch, daß er eine Sondertracht trage, für den Träger angenehm ist. Aber ich zweifle nicht, daß er sich mit seinem Kleid ebensosehr aussbhnen würde wie der Jurist. Wenn nur kein Zwang obwaltet, wenn nur das Kleid sach- lich einen wirklichen Vorteil bietet. Am Berufsstolz wird es nicht fehlen. Sehen wir doch so oft, wie die Berufe sich durch kleine Merkmale in der Tracht unter einander erkenntlich machen: und seien es die Metzger durch ihre Ballonmützen, die Zimmerleute durch ihre breiten Filzhüte. Wir sollen auch über diese Bestrebungen nicht höhnen, sondern sie — ohne Zwang — zu fördern suchen, unbeirrt um das Mißfallen derer, die für etwas anderes zu gelten wünschen, als sie sind. Unseres Volkes Leben ist Arbeit: Es gliedere sich auch äußerlich durch den Beruf. Es wird unser Gesamterscheinen nur gewinnen, wenn durch Berufstrachten in die Erscheinung des Volkes Abwechslung und in die Seelen der Menschen Standesgefühl käme.